VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 24.07.2007 - AN 4 K 06.31070 - asyl.net: M11149
https://www.asyl.net/rsdb/M11149
Leitsatz:

Im Irak besteht Gefahr der Gruppenverfolgung für Rückkehrer aller Konfessionen; keine inländische Fluchtalternative (im Anschluss an Urteil der 3. Kammer vom 19.4.2007 - AN 3 K 06.30312 - ASYLMAGAZIN 7–8/2007, S. 16)

 

Schlagwörter: Irak, Gruppenverfolgung, Schiiten, Sunniten, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsdichte, Nordirak, interne Fluchtalternative, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Im Irak besteht Gefahr der Gruppenverfolgung für Rückkehrer aller Konfessionen; keine inländische Fluchtalternative (im Anschluss an Urteil der 3. Kammer vom 19.4.2007 - AN 3 K 06.30312 - ASYLMAGAZIN 7–8/2007, S. 16)

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Rechtsanspruch gegen das Bundesamt auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Irak (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dem Kläger droht gegenwärtig und auf absehbare Zukunft bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG), eine innerstaatliche Fluchtalternative für den Kläger, der nach eigenen Angaben kurdischer Volkszugehöriger ist (obwohl sein Vater Araber sei), insbesondere etwa im Nordirak, ist nicht ersichtlich.

Nach Auswertung allgemein zugänglicher Medienberichte und der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen drohen jedoch nunmehr zurückkehrenden Irakern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Seiten so genannter nichtstaatlicher Akteure schwere Eingriffe, wie Mord, Verstümmelung oder andere schwere Rechtsverletzungen, die an die Religionszugehörigkeit der in ihr Heimatland Zurückkehrenden anknüpfen und gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat zum Teil nicht in der Lage, zum Teil nicht willens ist.

Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Die allgemeine Sicherheitslage im Irak ist nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 zwischenzeitlich hochgradig instabil geworden, sie ist geprägt durch tausende terroristische Anschläge und durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Ungeachtet der religiösen Minderheiten drohenden erhöhten Verfolgungsgefahr auf Grund des wachsenden Islamismus droht eine solche Verfolgung nach Überzeugung des Gerichts, das insoweit der Rechtsprechung der 3. Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach (vgl. Urteile vom 19.4.2007, z.B. Az. AN 3 K 06.30312 und AN 3 K 06.30586) folgt, auch Sunniten und Schiiten, wechselseitig verübt von jeweils militanten Vertretern der "gegnerischen" Religion.

Bei den vorstehend geschilderten Morden, Verstümmelungen und Entführungen handelt es sich dabei nach den Angaben insbesondere im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes um gezielte Verfolgungsmaßnahmen, die an die Religionszugehörigkeit des Betroffenen anknüpfen. Motiviert werden diese Morde und Massaker einerseits durch den sich immer weiter zuspitzenden Kampf um Macht und Einfluss im Irak zwischen den Religionsgemeinschaften der Schiiten und der Sunniten einerseits und weiter vom zunehmenden Hass zwischen diesen Religionsgruppen, der sich wiederum aus den Morden und Anschlägen heraus immer weiter verstärkt.

Dabei handelt es sich somit nicht um Wirkungen der schlechten allgemeinen Sicherheitslage im Irak, die neben der ausufernden, vom Staat in keiner Weise zu bekämpfenden Kriminalität, durch Versorgungsengpässe selbst mit elementarsten Gütern und Dienstleistungen und den allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang gekennzeichnet ist, wozu noch ständige Kampfhandlungen zwischen Aufständischen und der irakischen Regierung bzw. den Koalitionsstreitkräften mit zahlreichen Toten und Verletzten hinzukommen, sondern um gezielte religionsbedingte Verfolgung der beiden größten konfessionellen Gruppen im Irak, der Sunniten und Schiiten.

In Übereinstimmung mit der oben aufgeführten Rechtsprechung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach besteht diese Gefährdung nach Auffassung des erkennenden Gerichts ungeachtet der Tatsache, dass die genannte hohe Zahl von religionsbedingten Verfolgungsmaßnahmen bereits für die im Irak lebenden Sunniten und Schiiten ein hohes Gefährdungspotential besitzt, in erheblich gesteigertem Maße für aus dem Ausland zurückkehrende Iraker, wie etwa aus Deutschland abgeschobene oder freiwillig zurückkehrende Asylbewerber.

Dabei ist hinsichtlich der Zahl der Anschläge auf die Gruppe schiitischer und sunnitischer Rückkehrer aus Deutschland vor allem zu beachten, dass es Feststellungen bezüglich aus Deutschland abgeschobener oder zurückkehrender Asylbewerber derzeit praktisch nicht gibt, weil solche Rückführungen tatsächlich nicht oder nur in äußerst geringem Umfang stattgefunden haben und Berichte über die Erlebnisse und Erfahrungen der - wenigen - Rückkehrer derzeit nicht vorliegen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (z.B. im Beschluss vom 28.6.2006) geforderte Feststellung der Zahl der Übergriffe auf eine Gruppe und die Ermittlung der Größe der Gruppe, so dass eine Prognose über die Häufigkeit des Eintritts einer Verfolgungsmaßnahme für ein einzelnes Gruppenmitglied möglich wird, ist somit hier nicht möglich. Allerdings verweisen die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, insbesondere auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, immer wieder darauf, dass sich die Lage fortwährend verschlechtert, wobei die Verschlechterung seit dem Jahr 2003 kontinuierlich angehalten hat und somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Situation im Irak sich auch nur stabilisiert, geschweige denn verbessert. Nach Auffassung des Gerichts kann es somit einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage eines irakischen Asylbewerbers aus Deutschland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zugemutet werden, in den Irak zurückzukehren.

Auch im weitgehend kurdisch beherrschten Nordirak steht den Rückkehrern - möglicherweise (siehe dazu die nachfolgenden Ausführungen) vorbehaltlich besonderer Ausnahmefälle; ein solcher liegt hier jedoch nicht vor - keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c a.E. AufenthG offen. Die Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach den vorliegenden und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen allenfalls solchen Irakern möglich, die aus dem Nordirak stammen und dort ihre Großfamilie bzw. Sippe haben. Im Übrigen besteht für zurückkehrende Iraker keine Möglichkeit, eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden.