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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.06.2007 - C-50/06 - asyl.net: M11121
https://www.asyl.net/rsdb/M11121
Leitsatz:
Schlagwörter: Niederlande (A), Unionsbürger, Ausweisung, Ist-Ausweisung, zwingende Ausweisung
Normen: EG Art. 18 Abs. 1; RL 64/211/EWG Art. 3 Abs. 1; RL 64/211/EWG Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

28 Wie in Randnr. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wirft die Kommission dem Königreich der Niederlande vor, dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 64/221 verstoßen zu haben, dass es auf Unionsbürger nicht diese Richtlinie angewandt habe, sondern eine allgemeine ausländerrechtliche Regelung, die es ermögliche, einen systematischen und automatischen Zusammenhang zwischen einer strafrechtlichen Verurteilung und einer Ausweisungsmaßnahme herzustellen.

32 Zunächst ist daran zu erinnern, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Randnrn. 30 und 31, sowie vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnr. 31). Nach Art. 18 Abs. 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Einem Angehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat nicht kraft anderer Bestimmungen des EG-Vertrags oder seiner Durchführungsvorschriften ein Aufenthaltsrecht besitzt, kann dort bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung dieses Artikels ein Aufenthaltsrecht zustehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 84, und vom 7. September 2004, Trojani, C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Randnr. 31).

33 Dieses Recht ist allerdings nicht uneingeschränkt. Art. 18 Abs. 1 EG bestimmt, dass es nur vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. insbesondere Urteile Trojani, Randnrn. 31 und 32, sowie vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Randnr. 36).

34 Unter den Beschränkungen und Bedingungen, die gemeinschaftsrechtlich vorgesehen oder zulässig sind, erlaubt die Richtlinie 64/221 den Mitgliedstaaten, Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit unter Einhaltung der in dieser Richtlinie sowie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vorgesehenen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2002, MRAX, C-459/99, Slg. 2002, I-6591, Randnrn. 61 und 62, sowie vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien, C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Randnrn. 43 und 44).

35 Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, sind die Garantien der Richtlinie 64/221 hinsichtlich ihres persönlichen Anwendungsbereichs weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil MRAX, Randnr. 101). Die Mitgliedstaaten müssen alle Maßnahmen ergreifen, um jedem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, gegen den eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergangen ist, den Genuss des Schutzes zu gewährleisten, den die Bestimmungen der Richtlinie für ihn bedeuten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Dörr und Ünal, C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Randnr. 49). Würden Unionsbürger, die sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, von diesen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien ausgeschlossen, so verlören diese im Wesentlichen ihre praktische Wirksamkeit.

36 Diese Auslegung wird durch das Urteil MRAX bestätigt, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass sich ein Angehöriger eines Drittstaats, der Familienmitglied eines Gemeinschaftsangehörigen ist, die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt aber nicht erfüllt, auf die verfahrensrechtlichen Garantien der Richtlinie 64/221 berufen können muss.

37 Folglich ist eine Auslegung, der zufolge die Bestimmungen der Richtlinie 64/221 nur auf Unionsbürger anzuwenden sind, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar.

40 Da die Richtlinie 64/221 auch für Unionsbürger gilt, die sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, kann eine solche Person aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur innerhalb der engen Grenzen der Richtlinie ausgewiesen werden.

41 Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein. Art. 3 Abs. 2 bestimmt, dass strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen können. Eine strafrechtliche Verurteilung darf daher nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. insbesondere Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 28, vom 19. Januar 1999, Calfa, C-348/96, Slg. 1999, I-11, Randnr. 24, Kommission/Spanien, Randnr. 44, und vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Randnr. 33).

42 Der Gerichtshof hat stets hervorgehoben, dass die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit darstellt, die eng auszulegen ist und deren Tragweite nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (Urteile vom 28. Oktober 1975, Rutili, 36/75, Slg. 1975, 1219, Randnr. 27, Bouchereau, Randnr. 33, Calfa, Randnr. 23, vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Randnrn. 64 und 65, Kommission/Spanien, Randnr. 45, und Kommission/Deutschland, Randnr. 34).

43 Nach ständiger Rechtsprechung setzt der Rückgriff einer nationalen Behörde auf den Begriff der öffentlichen Ordnung auf jeden Fall voraus, dass außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile Rutili, Randnr. 28, Bouchereau, Randnr. 35, Orfanopoulos und Oliveri, Randnr. 66, Kommission/Spanien, Randnr. 46, und Kommission/Deutschland, Randnr. 35).

44 Nach Ansicht des Gerichtshofs steht das Gemeinschaftsrecht auch nationalen Bestimmungen entgegen, die von der Annahme ausgehen, dass Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden sind, auszuweisen sind (vgl. Urteil Orfanopoulos und Oliveri, Randnr. 93).

45 Im vorliegenden Fall kann zwar nicht festgestellt werden, dass nach der allgemeinen ausländerrechtlichen Regelung der Niederlande ein uneingeschränkter Automatismus zwischen einer strafrechtlichen Verurteilung und einer Ausweisungsmaßnahme besteht, doch ermöglichen diese Rechtsvorschriften es, Unionsbürger, die eine strafrechtliche Verurteilung aufweisen, ohne Beachtung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien der Richtlinie 64/221 aus dem Königreich der Niederlande auszuweisen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass trotz Beachtung der familiären Umstände die Ausweisung solcher Personen verfügt wird, ohne dass ihr persönliches Verhalten oder die Frage berücksichtigt wird, ob eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegt.