VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 16.05.2007 - Au 5 K 07.30066 - asyl.net: M11083
https://www.asyl.net/rsdb/M11083
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Altfälle, Übergangsregelung, Fristbeginn, Drei-Jahres-Frist, Zuwanderungsgesetz, Frauen, Flüchtlingsfrauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, politische Entwicklung, westliche Orientierung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

1 Der Widerruf des Schutzes wegen politischer Verfolgung (nach vormals § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt größtenteils inhaltsgleich § 60 Abs. 1 AufenthG) findet seine Rechtsgrundlage in § 73 AsylVfG. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für einen Widerruf der Rechtsstellung der Klägerin, wie sie mit Bescheid der Beklagten vom 1. September 1997 nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. begründet worden war, sind nicht erfüllt.

1.1 Vorauszuschicken ist, dass § 73 Abs. 2 a) AsylVfG, der am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, der Widerrufsentscheidung nicht entgegensteht.

1.2 Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG - vormals § 51 Abs. 1 AuslG a.F. - vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nachträglich weggefallen sind.

1.3 Die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts nach der sich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bietenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) hinsichtlich Irak einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, weil ihr nach ihrer Ausreise nach Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung drohen würde.

c) Die Klägerin hat zwar wegen ihres Asylantrags und ihrer illegalen Ausreise und der dadurch ehemals begründeten Verfolgungssituation keine politische Verfolgung mehr in Irak zu befürchten. Das Gericht ist nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel aber davon überzeugt, dass der Klägerin in Irak landesweit auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG drohen würde. Die Klägerin ist, wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen umfassenden Eindruck verschafft hat, mittlerweile in allen ihren Lebensbereichen westlich orientiert. Sie spricht fließend und nahezu akzentfrei Deutsch und hat sich seit ihrer Einreise im Jahr 1997 kontinuierlich bundesdeutschen Verhältnissen angepasst und die hier herrschenden, westlichen Lebens- und Verhaltensweisen angenommen. Es handelt sich bei ihr um eine Akademikerin, deren Freundeskreis nur zu einem sehr geringen Teil aus irakischen Staatsbürgern, vielmehr z.B. aus deutschen, rumänischen und togoischen Staatsangehörigen besteht. Sie ist ledig und lebt hier im Familienverbund. Sie spricht mehrere Sprachen, was ihr bei ihrer beruflichen Tätigkeit zugute kommt. Sie lehnt zwar, wie sie in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, den Islam nicht prinzipiell ab, akzeptiert aber, wie sie weiter ausgeführt hat, trotzdem nicht alles, was die islamischen Vorstellungen vorgeben. Sie lehnt es z.B. völlig ab, wie dies von Mädchen ab dem 6. Lebensjahr in ihrer Heimatstadt gefordert wird, ein Kopftuch zu tragen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegt. Die traditionellen Sitten und Gebräuche, die die Klägerin als "männliche Gesetze" und nicht als Gesetze ihrer Religion empfindet, erlebt sie als gegen Frauen gerichtete Anforderungen, die sie nicht bereit ist zu erfüllen. Insgesamt handelt es sich bei der Klägerin um eine westlich orientierte ledige Frau, die ein Leben nach islamisch geprägten traditionellen Sitten und Gebräuchen im Wesentlichen ablehnt. Sie ist - nicht zuletzt auch wegen ihres jahrelangen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und der daraus resultierenden westlichen Orientierung - nicht bereit, sich den in Irak herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen anzupassen. Die Situation einer solchen jungen Frau in Irak ist nach den o.a. Anmerkungen von UNHCR bedrohlich verschlechtert und daher mehr als prekär. Insbesondere alleinstehende Frauen, die sich geweigert haben, Verhaltensanweisungen streng konservativer, islamischer Kreise Folge zu leisten, haben danach mit Bedrohungen, Vergewaltigungen, Entführungen und dem Tod zu rechnen. Frauen, die sich nicht den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften anpassen, unterliegen unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko, Opfer schwerwiegender Angriffe in ihre physische Integrität zu werden. Ohne den Schutz eines Mannes oder des Familienverbundes ist das wirtschaftliche Überleben der Frauen nicht gesichert. Gegen die - im Zweifel auch mit Gewalt - erzwungene Anpassung an die in Irak herrschende und zunehmend fundamentalistisch geprägte weibliche Geschlechterrolle kann auch die Familie keinen effektiven Schutz gewährleisten. Dies gilt umso mehr, wenn Frauen nach längerem Aufenthalt im westlichen Ausland nach Irak zurückkehren. Die Klägerin, die überdies von ihrer Ausbildung her den meisten irakischen Männern fachlich überlegen sein dürfte, müsste in kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen rechnen. Nach der Stellungnahme von UNHCR vom 20. Juni 2006 sind Frauen, deren Persönlichkeit durch eine westliche Orientierung geprägt ist, die sich durch selbstbewusstes Auftreten, eine gute schulische und/oder berufliche Ausbildung oder das Streben nach persönlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit nach außen manifestiert, in Irak grundsätzlich auch dann bedroht und gezwungen, ihre gesamte Lebenseinstellung und Lebensweise zu verändern, wenn sie gemeinsam mit ihren Ehemännern oder ihren Eltern nach Irak zurückkehren. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen in Irak hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension erhalten. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich, also nach Kleidung, Verhalten und Gebräuchen, nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (z.B. LB 01.07, S. 25; VG Göttingen vom 31.1.2006 Az. 2 A 227/05). Eine Frau wie die Klägerin wird nach Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines absehbaren Zeitraums Opfer eines gegen ihre physische Integrität gerichteten Angriffs. Von staatlicher Seite hätte die Klägerin in Anbetracht der Tatsache, dass die staatlichen Institutionen - insbesondere die Sicherheitskräfte und das Justizwesen - derzeit nicht in der Lage sind, Frauen effektiv vor diskriminierender Behandlung und gezielten Übergriffen zu schützen, keinerlei Unterstützung zu erwarten (vgl. UNHCR vom November 2005 a.a.O.). Es kommt hinzu, dass die Klägerin, die seit fast zehn Jahren nicht in ihrem Ausbildungsberuf erwerbstätig war, nahezu keine Chance hätte, ein eigenes Einkommen zu erzielen und wirtschaftlich zu überleben; es kommt weiter hinzu, dass sich die gesamte Familie der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland befindet und ihr somit jegliche Möglichkeiten genommen sind, in einen Familienverbund zurückzukehren. Die Klägerin hat auch glaubhaft gemacht, dass kein Familienverbund im weiteren Sinne in Irak existiert, so dass dort niemand lebt, der sie aufnehmen und ihr Schutz gewähren könnte. Es ist nach der dargestellten Situation daher beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer erzwungenen Rückkehr in Irak geschlechtsspezifisch verfolgt würde.

d) Der Klägerin ist auch in Nordirak keine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG).

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu im Urteil vom B. Februar 2007 (Az. 23 B 06.30866) Folgendes ausgeführt:

"Der Senat hat zu Zeiten der Schreckensherrschaft Saddam Husseins in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass für irakische Staatsangehörige aus dem Zentralirak die "autonomen" kurdischen Provinzen nur dann eine Fluchtalternative darstellen, wenn sie dort zum einen mangels politischer Exponiertheit vor dem Zugriff des zentralirakischen Staates ausreichend sicher sind und zum anderen aufgrund familiärer oder klientilistischer Verbindungen ihr wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist (vgl. statt vieler BayVGH vom 6.6.2002 Az. 23 B 02.30536 und vom 14.12.2000 Az. 23 B 00.30256).

Die Verhältnisse haben sich insoweit, was Flüchtlinge aus dem Zentralirak ohne Bindungen zum Nordirak betrifft, nicht geändert."

Gemessen an diesen Feststellungen geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin, die nicht aus den kurdisch kontrollierten Gebieten des Nordirak stammt, in Irak einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c AufenthG unterliegt und weder der irakische Staat noch die internationalen Schutztruppen in der Lage sind, sie vor entsprechenden Übergriffen zu schützen, wobei für sie auch keine inländische Fluchtalternative besteht. Der Klägerin ist eine Rückkehr nach Nordirak nicht zumutbar.