VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 24.04.2007 - 11 B 03.30133 - asyl.net: M10997
https://www.asyl.net/rsdb/M10997
Leitsatz:

Unverfolgt ausgereisten tschetschenischen Volkszugehörigen steht eine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation offen (Bestätigung und Fortschreibung der Rechtsprechung des Senats).

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Gruppenverfolgung, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative, Erreichbarkeit, Inlandspass, Situation bei Rückkehr, Registrierung, Wohnraum, REAG-/GARP-Programm, Existenzminimum, Sozialhilfe, Rassisten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9
Auszüge:

Unverfolgt ausgereisten tschetschenischen Volkszugehörigen steht eine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation offen (Bestätigung und Fortschreibung der Rechtsprechung des Senats).

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Das Verwaltungsgericht Würzburg hat in seinem Urteil vom 9. Dezember 2002 die Beklagte zu Unrecht verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 9 f. QualR vorliegen.

a) Es spricht alles dafür, dass die Kläger die Russische Föderation verlassen haben, ohne aus individuellen Gründen politisch verfolgt worden oder von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht gewesen zu sein. Eine individuelle Vorverfolgung wurde nicht glaubhaft gemacht.

b) Die Frage einer regionalen (nicht einer örtlich begrenzten - vgl. BVerwG vom 4.1.2007 a. a.O.) Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Teilen der Russischen Föderation kann dahinstehen, da den Klägern jedenfalls eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, wo sie hinreichende Sicherheit vor Verfolgung finden.

bb) Der Senat hält an seiner bereits in der Entscheidung vom 31. Januar 2005 (Az. 11 B 02.31597), auf die insoweit Bezug genommen wird, vertretenen Auffassung fest, dass tschetschenischen Volkszugehörigen jedenfalls außerhalb Tschetscheniens, Inguschetiens, Kabardino-Balkariens und der Regionen Krasnodar und Stawropol grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation zur Verfügung steht. An diesem Befund ändert der Umstand nichts, dass Frau Gannuschkina dieser Beurteilung in ihrem Schreiben vom 16. Oktober 2005 widersprochen hat. Denn die Beantwortung der Frage, ob ein Tschetschene nach den Maßstäben des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden nationalen und internationalen Rechts dann vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, wenn er sich in hierfür in Betracht kommenden Teilen der Russischen Föderation niederlässt, obliegt ausschließlich den zuständigen deutschen Amtsträgern. Soweit sich der Verwaltungsgerichtshof bei der vorliegenden Entscheidung auf tatsächliche Angaben stützt, die entweder Frau Gannuschkina selbst oder die Organisationen "Memorial", "Bürgerbeteiligung" sowie "Migration und Recht" gemacht haben, wurden diese im Schreiben vom 16. Oktober 2005 nicht widerrufen; auf Seite 1 dieser Unterlage wird im Gegenteil betont, dass diese Organisationen in einigen Fällen effektiv hätten Hilfe leisten können.

Die Voraussetzungen dafür, dass die Kläger im vorliegenden Fall auf eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation verwiesen werden können, sind erfüllt.

(1) Die Kläger können die Orte der inländischen Fluchtalternative auf zumutbare Weise erreichen, auch wenn sie zunächst kurzfristig nach Tschetschenien zurückkehren müssen, um sich einen Inlandspass zu besorgen.

Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich die Kläger kurzfristig zur Erlangung eines Inlandspasses nach Grosny bzw. Gudermes und somit nach Tschetschenien begeben müssen. Während des kurzen Aufenthaltes dort drohen ihnen aber nicht derart existenzielle Gefährdungen, dass von einer Unerreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative gesprochen werden müsste, weil die Kläger nur über die "Hürde" Tschetschenien dorthin gelangen können.

(2) An den Orten der inländischen Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation sind die Kläger vor politischer Verfolgung hinreichend sicher und es drohen ihnen auch keine anderen Gefahren und Nachteile, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylrechtserheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen würden, und nicht auch in Tschetschenien so bestünden. Ferner ist davon auszugehen dass die Kläger ihre Existenz am Ort der Fluchtalternative vorübergehend auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen in zumutbarer Weise werden sichern können.

(a) Es ist nicht davon auszugehen, dass den Klägern daraus, dass sie die Registrierung an dem Ort, an dem sie sich niederlassen wollen, nicht erlangen, Nachteile erwachsen, die den nach § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. nach Art. 9 Abs. 1 QualR erforderlichen Schweregrad erreichen.

Die Registrierung ist, wie bereits unter (1) dargestellt, Voraussetzung für einen legalen Aufenthalt, den Zugang zu Soziahilfe, zu staatlich gefördertem Wohnraum, zum kostenlosen Gesundheitssystem und zum legalen Arbeitsmarkt. Tschetschenen haben hiernach erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten, auch wenn ihnen grundsätzlich wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zusteht.

Die erwähnten (rechtswidrigen) Restriktionen werden nicht in allen Landesteilen gleichermaßen praktiziert. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten steht außer Zweifel, dass Tschetschenen auch außerhalb Tschetscheniens tatsächlich in der Russischen Föderation Wohnraum finden. Der Beschaffung von Wohnraum stehen ferner keine unüberwindlichen finanziellen Hemmnisse entgegen, da es den Klägern für die Zeit bis zur Erlangung einer Registrierung nicht an den erforderlichen Geldmitteln fehlen wird. Denn sofern sie bereit wären, die Bundesrepublik Deutschland freiwillig zu verlassen, könnten sie Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm in Anspruch nehmen.

Nur ergänzend ist bei alledem anzumerken, dass gegen verweigerte oder ungerechtfertigt kurz befristete Registrierungen durch die Einschaltung von Menschenrechtsorganisationen und das Einlegen von Rechtsbehelfen wirksame Abhilfe möglich ist; auf die Darstellung einschlägiger Fälle in den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Ausarbeitungen von "Memorial", insbesondere auf das speziell dieser Thematik gewidmete Schreiben von Frau Gannuschkina an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 27. Juni 2005 wird Bezug genommen.

Anhaltspunkte dafür, dass der nicht registrierte Teil der tschetschenischen Binnenflüchtlinge eine Legalisierung seines Aufenthalts schlechthin nicht zu erreichen vermochte, ergeben sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht. In den Fallschilderungen, die mit der Feststellung abbrechen, Tschetschenen sei die Registrierung verweigert worden, fehlt praktisch durchgängig eine Aussage darüber, ob der Betroffene gebührliche Anstrengungen unternommen hat, um den Status der Illegalität zu vermeiden bzw. zu beenden.

(b) Besitzt ein Tschetschene, bei dem keine zusätzlichen Umstände vorliegen, die Anlass zu Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QualR geben, sowohl gültige Ausweispapiere als auch eine Registrierung an dem Ort, an dem er angetroffen wird, so gibt er der russischen Staatsgewalt keine Handhabe, um ihn mit asylrechtlich ggf. relevanten Maßnahmen zu überziehen. Dem Verwaltungsgerichtshof liegen keine Erkenntnisse vor, dass Tschetschenen, die diese Anforderungen erfüllen und die in ihrer Person auch keinen sonstigen Anlass zu polizeilichem Einschreiten gegeben haben, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, Inguschetiens, Kabardino-Balkariens sowie der Regionen Krasnodar und Stawropol in jüngerer Zeit von staatlicher Seite in asylrechtlich erheblicher Weise belangt wurden; wegen der Gesichtspunkte, im Hinblick auf die diese Aussage für die fünf vorgenannten Gebiete u. U. nicht (vorbehaltlos) Geltung beanspruchen kann, wird auf die S. 9 bis 13 des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. Januar 2005 (a. a.O.) verwiesen.

Die Kläger wären jedenfalls bei einer Niederlassung außerhalb Tschetscheniens, Inguschetiens, Kabardino-Balkariens sowie der Regionen Krasnodar und Stawropol ferner vor Übergriffen gesellschaftlicher Kräfte hinreichend sicher, die sich der russische Staat nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG bzw. Art. 6 Buchst. c QualR dann zurechnen lassen müsste, falls er nicht willens oder nicht in der Lage wäre, vor solchen Angriffen Schutz zu bieten. Nach Darstellung der Nichtregierungsorganisation "Sowa" gab es im Jahr 2006 in der Russischen Föderation 460 Verletzte und 53 Tote bei fremdenfeindlichen Angriffen (vgl. S. 10 des Lageberichts vom 17.3.2007). Setzt man diese Zahlen in Relation zu den mehr als 145 Millionen Menschen, die in der Russischen Föderation leben und von denen viele den mehr als hundert anerkannten ethnischen Minoritäten angehören (vgl. Abschnitt II.1.b des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004), kann nicht davon gesprochen werden, rassistisch motivierte Übergriffe seien in diesem Land in herausragender Häufigkeit zu verzeichnen.

(c) Den Klägern drohen in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien, Inguschetien, Kabardino-Balkarien sowie der Regionen Krasnodar und Stawropol ferner keine existenziellen Nachteile und Gefahren, angesichts derer von ihnen unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten in der Russischen Föderation und ihrer persönlichen Umstände nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort aufhalten (vgl. Art. 8 Abs. 1 und 2 QualR).

Wie bereits dargestellt, ist davon auszugehen dass die Kläger ihre Existenz am Ort der Fluchtalternative für den zu überbrückenden Zeitraum von längstens einigen Monaten bis zu einer Registrierung mit Hilfe der Mittel in zumutbarer Weise sichern können, die sie gemäß dem REAG/GARP-Programm erhalten werden und die einem Mehrfachen des monatlichen russischen Durchschnittseinkommens entsprechen.

Auch nach der Registrierung werden die Kläger in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit sowie erforderlichenfalls durch ergänzende Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen zu bestreiten.