VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Beschluss vom 27.04.2007 - W 5 S 07.30091 - asyl.net: M10985
https://www.asyl.net/rsdb/M10985
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, offensichtlich unbegründet, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), verspätetes Vorbringen, Abänderungsantrag, Auslieferung, Strafverfahren, Militärrichter, fair trial, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, menschenrechtswidrige Behandlung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 4 S. 2; VwGO § 80 Abs. 7; AsylVfG § 36 Abs. 3; AsylVfG § 36 Abs. 4; IRG § 73 AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

1. Der Antrag ist – wie die Bevollmächtigte offenbar selbst erkennt – als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO nicht statthaft; um eine dort genannte Frist und ggf. deren Versäumung geht es hier gar nicht. Im Übrigen liegt auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Denn weil das Gericht über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO binnen 1 Woche entscheiden soll (§ 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG) und weil nicht angegebene Tatsachen und Beweismittel normalerweise unberücksichtigt bleiben (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG), obliegt es selbstverständlich dem Asylsuchenden, binnen 2 Wochen nach Bescheidzustellung alles gegen die Abschiebungsandrohung vorzubringen. Die Klage bzw. erweiterte Antragsbegründung datiert aber vom 23. März 2007, also mehr als 3 Wochen nach Zustellung des Bundesamtsbescheides.

Im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes (103 Abs. 1 GG, § 88 VwGO) wertet das Gericht den Antrag jedoch als solchen nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Änderung des Beschlusses vom 29. März 2007 und (nunmehrige) Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.

Dieser Antrag ist zulässig, aber nicht begründet.

2. Auch weiterhin bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts (§ 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG), wobei Prüfungsgegenstände die Abschiebungsandrohung und inzident die Offensichtlichkeitsentscheidung sind, während die Entscheidung über Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wegen § 50 Abs. 3 AufenthG keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Androhung hat.

3. Die Entscheidung des Bundesamtes über Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hat – wie oben dargelegt – keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und ist deshalb nicht Gegenstand der gerichtlichen Prüfung nach § 36 Abs. 4 AsylVfG. Allerdings gibt die (am 02.04.2007 dem VG bekannt gewordene und rechtliche zutreffende) Mitteilung des Bundesamtes vom 29. März 2007 an die Zentrale Rückführungsstelle Nordbayern, wonach wegen der Ablehnung des Auslieferungsersuchens der Türkei jetzt das zeitliche Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 4 AufenthG nicht mehr bestehe, Anlass zu folgender – den Beschluss vom 29. März 2007 ergänzender – Anmerkung (auch im Hinblick auf das noch anhängige Klageverfahren):

Grund für die Ablehnung des Auslieferungsersuchens war der Beschluss des OLG Bamberg. Das OLG Bamberg kam nach eigenen Recherchen (über das Bundesamt für Justiz) und unter Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Auffassung, dass die – erwiesene – Beteiligung eines Militärrichters an der Verurteilung des Antragstellers im Jahr 1995 rechtlich bedenklich ist, Zweifel an einem fairen Verfahren und an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Strafgerichts wecken kann, und dass an dieser Einschätzung auch die dem Strafurteil folgenden Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs von 1996 und des Schwurgerichts von 2006 nichts geändert haben. Das OLG Bamberg hat aus diesen Gründen ein Auslieferungshindernis nach § 73 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) i. V. m. Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) festgestellt. Nach § 73 Satz 1 IRG ist u. a. die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde; Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt das Recht auf ein faires Verfahren (offen gelassen hat das OLG Bamberg die Frage eines weiteren Auslieferungshindernisses nach Art. 3 EMRK – Folterverbot –, das den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 2 AufenthG betrifft). Wurde der Antragsteller aber in einem Art. 6 Abs. 1 EMRK widersprechenden Verfahren verurteilt, so hätte er bei einer Abschiebung in die Türkei wohl die Verbüßung der (Rest) Strafe zu erwarten, die nicht weniger menschenrechtswidrig angesehen werden könnte als das zugrunde liegende Strafverfahren. Damit dürften hinsichtlich einer Abschiebung in die Türkei die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sein, der durch § 60 Abs. 6 AufenthG nicht ausgeschlossen wird (vgl. z. B. VG Aachen, U.v. 11.10.2006, 8 K 1146/02.A, in juris). Einer Abschiebung des Antragstellers in ein anderes Land, z. B. die Schweiz, stünde dieses Hindernis aber nicht entgegen.