VG Sigmaringen

Merkliste
Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 30.05.2007 - A 5 K 72/07 - asyl.net: M10920
https://www.asyl.net/rsdb/M10920
Leitsatz:

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist gem. § 73 Abs. 2 a S. 3 AsylVfG nur im Ermessen des Bundesamtes möglich, wenn das Bundesamt bereits vor dem 01.01.2005 den Widerruf geprüft und abgelehnt hatte.

 

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Altfälle, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Anwendungszeitpunkt, Gleichheitsgrundsatz, Rücknahme, Umdeutung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2
Auszüge:

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist gem. § 73 Abs. 2 a S. 3 AsylVfG nur im Ermessen des Bundesamtes möglich, wenn das Bundesamt bereits vor dem 01.01.2005 den Widerruf geprüft und abgelehnt hatte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Widerrufsbescheid der Beklagten ist bereits deshalb rechtswidrig, weil sie das ihr gemäß § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat.

Dem steht hier nicht entgegen, dass die Bestimmung des § 73 Abs. 2a AsylVfG erst mit Wirkung zum 1.1.2005 in Kraft getreten ist (andere Ansicht ohne nähere Begründung: VG Karlsruhe, Urteil vom 20.01.2006 - A 1 K 11411/05 -; wie hier: VG Sigmaringen, Urteil vom 26.1.2007 - A 6 K 770/06 - und vom 30.3.2007 - A 6 K 583/06 -; VG Hamburg, Urteil vom 3.11.2005 - 19 A 540/03 -; der Pressemitteilung Nr. 15/2007 des Bundesverwaltungsgerichts zu den Urteilen vom 20.3.2007 in den Verfahren 1 C 21.06, 34.06, 1 C 38/06 ist zu dieser Frage nichts Hinreichendes zu entnehmen; die Entscheidungsgründe zu diesen Urteilen liegen - soweit auf der homepage des Bundesverwaltungsgerichts ersichtlich - bislang im Volltext nicht vor). Im Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950) ist für diese Vorschrift eine Übergangsbestimmung nicht enthalten, so dass die Frage ihrer Anwendbarkeit im Wege der Auslegung zu ermitteln ist. In der Rechtsprechung ist zwischenzeitlich geklärt, dass § 73 Abs. 2 a AsylVfG auf - anders als hier - vor dem 1.1.2005 ergangene Widerrufsentscheidungen keine Anwendung findet (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276). Der amtlichen Begründung zufolge sollte mit der Einführung einer obligatorischen Prüfungspflicht in Satz 1 der Bestimmung erreicht werden, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bisher weitgehend leergelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (BT-Drs. 15/420, S. 112). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1.11.2005, a.a.O.) ist das neu eingeführte mehrstufige Verfahren eine zukunftsbezogene Regelung. § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG erteilt mit der Formulierung "die Prüfung ... hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen" einen bindenden Auftrag an die Behörde, der sich lediglich auf Fälle bezieht, in denen bei Inkrafttreten der Vorschrift weder ein Widerruf noch eine Rücknahme der Anerkennung erfolgt ist. Der erkennbare Zusammenhang mit dem ebenfalls am 1.1.2005 in Kraft getretenen § 26 AufenthG verdeutlicht, dass es sich bei der Prüfungs- und Mitteilungspflicht des § 73 Abs. 2 a Satz 1 und 2 AsylVfG, an die die nach Satz 3 zu treffende Ermessensentscheidung anknüpft, um einen in die Zukunft gerichteten Auftrag an das Bundesamt handelt. Hätte der Gesetzgeber eine rückwirkende Geltung der in Rede stehenden Vorschrift beabsichtigt, so hätte es einer entsprechenden Übergangsvorschrift bedurft. Diese fehlt indessen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zunächst auch offen gelassen, ob § 73 Abs. 2 a AsylVfG darüber hinausgehend nur für den Widerruf von Anerkennungsbescheiden gilt, die nach dem 1.1.2005 ergangen sind (vgl. hierzu VG Göttingen, Urteil vom 6.9.2005 - 2 A 91/05 -). Nunmehr scheint das Bundesverwaltungsgericht das Erfordernis einer Ermessensentscheidung im Grundsatz auch anzunehmen, wenn die Widerrufsentscheidung nach dem 1.1.2005 ergeht, die Asylanerkennung aber zuvor erfolgte (vgl. dazu die bereits genannte Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Urteilen vom 20.03.2007 - 1 C 21.06, 1 C 34.06 und 1 C 38.06 -).

Anders als in den bislang vielfach von der Rechtsprechung entschiedenen Fallgestaltungen (vgl. etwa: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1.12.2006 - 19 A 10887/06 -) geht es aber in dem hier zu beurteilenden Fall nicht darum, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Ermessensentscheidung zu fordern, ohne dass zuvor eine Prüfung des Widerrufs stattgefunden hätte. Ein Ermessen ist erst und ausschließlich dann eröffnet, wenn bereits einmal eine Prüfung stattgefunden hat, die nicht zum Widerruf oder zur Rücknahme der zu prüfenden Entscheidung geführt hat (vgl. dazu VG Saarland, Urteil vom 6.9.2006 - 10 K 22/06.A -). Eine nachträgliche Eröffnung des Ermessens ab dem 1.1.2005 für einen unter Geltung früheren Rechts (zwingend) zu erlassenen Widerruf ist abzulehnen. Hier aber galt zum Zeitpunkt des Widerrufs am 1.2.2007 bereits die Vorschrift des § 73 Abs. 2a AsylVfG. Mehrere vorhergehende Prüfverfahren, die den Anforderungen der beiden ersten Sätze dieses Absatzes genügten, sind durchgeführt worden - obwohl dies (mangels Geltung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG) noch nicht zwingend vorgeschrieben war -, so dass der Tatbestand der Norm erfüllt ist. Unter diesen speziellen Voraussetzungen durfte die Beklagte den Widerruf nur nach Ermessen ausüben.

Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung (so auch VG Hamburg, Urteil vom 3.11.2005, a.a.O., dort sogar - anders als hier - für die Fallgestaltung, dass im ersten Prüfverfahren keine Mitteilung über den Abschluss der Prüfung an die Ausländerbehörde gemacht wurde). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich der Aufenthaltsstatus des Ausländers in der Regel nach der Asylanerkennung rechtlich verfestigt hat und zugleich das öffentliche Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht (mehr) zustehenden Rechtsposition durch den Zeitablauf an Gewicht verloren hat. Diese Interessenlage hat der Gesetzgeber zum 1.1.2005 aufgegriffen. Dass sie erst Berücksichtigung finden soll, wenn eine erste Überprüfung des Asylstatus - ohne Widerruf - nach dem 1.1.2005 stattfand und der Ausländerbehörde mitgeteilt wurde und in der Folge - nochmals - über den Widerruf entschieden wird, lässt sich weder aus der Zukunftsgerichtetheit des Prüfauftrags in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG noch aus deren Zusammenwirken mit § 26 Abs. 3 AufenthG ableiten. Ansonsten würden sich in Zukunft - auch unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten (Art. 3 Abs.1 GG) - bedenkliche Fallkonstellationen ergeben, etwa wenn im Jahr 2009 der Widerruf einer aus dem Jahre 1994 stammenden Asylanerkennung, deren Widerruf 2005 bereits einmal geprüft worden ist, im Ermessen der Beklagten stünde, derjenige einer Asylberechtigung, deren Fortbestand - wie hier - bereits drei Mal in den Jahren 1998, 1999 und 2001/2002 geprüft und ausdrücklich bestätigt wurde, aber zwingend erfolgen müsste. Soweit die Rechtsprechung die korrespondierende Vorschrift des § 26 Abs. 3 AufenthG dahingehend auslegt, dass vor dem 1.1.2005 liegende Zeiten des Besitzes eines Aufenthaltstitels nicht auf die dort geregelte Dreijahresfrist angerechnet werden können (vgl. dazu nur VG Ansbach, Beschluss vom 4.9.2006 - AN 19 K 06.02279), berührt auch dies diese Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG nicht. Zum einen setzt der Tatbestand des § 26 Abs. 3 AufenthG ausdrücklich positiv den Besitz einer "Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2" voraus, der begrifflich vor dem 1.1.2005 nicht möglich war. Demgegenüber konnte die von § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG in Bezug genommene Prüfung nach Satz 1 und 2 der Bestimmung ohne Weiteres bereits zuvor stattfinden; insoweit wird für die Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite lediglich an eine frühere Prüfung tatbestandlich rückangeknüpft. Zum anderen existiert mit § 102 Abs. 2 AufenthG für die Fristberechnung nach § 26 Abs. 4 AufenthG explizit eine Übergangsvorschrift, die den Gegenschluss zulässt, dass die maßgebliche Aufenthaltsdauer des § 26 Abs. 3 AufenthG erst ab dem 1.1.2005 zu berechnen ist. Für die hier entscheidende Vorschrift des § 73 Abs. 2a AsylVfG fehlt eine derartige Übergangsbestimmung gerade. Der angefochtene Bescheid, der eine Rücknahme nicht verfügt, lässt sich zum einen bereits nicht in eine Rücknahmeentscheidung umdeuten (anderer Ansicht: VG Ansbach, Urteil vom 7.12.2004 - Au K 04.30348; VG Stuttgart, Urteil vom 4.11.2003 - A 5 K 11945/03 -; wie hier: VG Sigmaringen, Urteil vom 9.1.2007 - A 6 K 10989/05 -), weil sich die Rücknahme in den zeitlichen Wirkungen - aber auch unter Umständen bei der späteren aufenthaltsrechtlichen Würdigung der Aufenthaltszeiten des Klägers während der Geltungsdauer seiner Asylberechtigung - vom Widerruf unterscheidet und die belastendere Maßnahme ist (vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30). So hat es das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 24.11.1998, a.a.O., offengelassen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich Widerruf und Rücknahme einer Asylanerkennung in ihrer zeitlichen Wirksamkeit unterscheiden, weil der Kläger in jenem Verfahren nicht nachteilig in seinen Rechten betroffen ist, falls sich bei einer Umdeutung von einer Rücknahme in einen Widerruf - also der umgekehrte Fall wie hier - die Aufhebung der Asylanerkennung als Widerruf mit Wirkung lediglich für die Zukunft aufrechterhalten ließe. Diese Möglichkeit ist bei der Umdeutung von einem Widerruf in eine (in zeitlicher Hinsicht) belastendere Rücknahme gerade nicht gegeben.

Zum anderen wäre eine Rücknahmeentscheidung ebenfalls rechtswidrig ergangen und würde den Kläger in seinen Rechten verletzen. Denn auch die Rücknahmeentscheidung stünde hier aus den oben dargelegten Erwägungen gemäß § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG im Ermessen, das von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht ausgeübt worden ist. Denn wenn man eine Umdeutung der Widerrufsentscheidung in eine Rücknahmeentscheidung für rechtlich zulässig halten wollte, muss man konsequenterweise die dem Ausländeramt mitgeteilte Entscheidung des Bundesamtes vom 4.11.1999, kein Widerrufsverfahren einzuleiten, zugleich auch als Entscheidung ansehen, kein Rücknahmeverfahren durchzuführen, nachdem die diesbezügliche Anfrage des Ausländeramtes offensichtlich auch Rücknahmegründe zum Gegenstand hatte.