VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 09.03.2007 - M 24 K 06.51017 - asyl.net: M10739
https://www.asyl.net/rsdb/M10739
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Vergewaltigung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, Polizei, Verfolgungszusammenhang, Glaubwürdigkeit, gesteigertes Vorbringen, Hausdurchsuchung, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, PKK, Sippenhaft, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, medizinische Versorgung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Klägerin droht in der Türkei keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG, insbesondere nicht die Einbeziehung in die (behauptete) politische Verfolgung ihres Ehemannes (Sippenhaft).

Das Gericht hält es für glaubhaft gemacht, dass die Klägerin im April 1999 Opfer einer Vergewaltigung in den Räumen einer Polizeiwache geworden ist, nachdem sie im Zusammenhang mit den politischen Aktivitäten ihres Ehemannes verhaftet und hierzu verhört worden war. Zwar hat sie diesen Vortrag noch nicht in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt, vielmehr erst kurze Zeit vor der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Klageverfahren gemacht, so dass hierin im Grundsatz ein gesteigertes Vorbringen zu sehen ist. Dies führt jedoch (ausnahmsweise) nicht zur Unglaubwürdigkeit des entsprechenden Vortrags, da das Gericht - in Übereinstimmung mit der Beklagtenvertreterin - sachliche Gründe dafür erkennt, dass die Klägerin von der Vergewaltigung nicht bereits im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 5. September 2006 berichtet hat. Ausweislich des dort gefertigten Protokolls wurde sie nämlich in Anwesenheit ihrer beiden Kinder angehört; zudem waren sowohl Anhörer als auch Dolmetscher männlichen Geschlechts, so dass es den gesamten Umständen nach durchaus nachvollziehbar ist, dass sie die bis heute belastenden Vorgänge anlässlich ihrer Verhaftung und Misshandlung auf der Polizeiwache nicht detailliert geschildert hat. Dies geschah erst angesichts der näherrückenden mündlichen Verhandlung und auf ausdrückliches Anraten ihres Bevollmächtigten hin.

Das Gericht geht weiter davon aus, dass die von der Klägerin dargetane psychische Erkrankung, wegen deren Behandlung sie sich um eine muttersprachliche Therapie bei R. e. V. in München bemüht, letztlich auf das traumatisierende Gewaltereignis im Jahre 1999 zurückgeht.

Vor dem Hintergrund des glaubwürdig dargestellten Sachverhalts steht für das Gericht fest, dass die Klägerin im April 1999 Opfer asylrelevanter Gewaltmaßnahmen mit politischem Charakter geworden ist. Die gegen nahe Angehörige von Personen, die der Unterstützung der PKK verdächtigt wurden und werden, gerichteten sippenhaftähnlichen und dem Staat zurechenbaren Maßnahmen sind politische Verfolgung (vgl. OVG NordrheinWestfalen, Urteil vom 15.1.2000, Az. 8 A 1292/96.A, RdNr. 3929). In den darauf folgenden Jahren bis zu ihrer Ausreise aus der Türkei ist die Klägerin jedoch nicht mehr in asylerheblicher Weise belangt worden. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass auch die späteren schikanösen Hausdurchsuchungen eine schwere Belastung für sie darstellten. Derartige Maßnahmen staatlicher Organe gegenüber verdächtigen kurdischen Volkszugehörigen waren und sind mit Beschimpfungen und Schikanen verbunden, die Betroffenen müssen damit rechnen, herumgeschubst und beleidigt zu werden, Hausrat und sonstige Gegenstände werden durcheinander gebracht und erheblicher psychischer Druck ausgeübt (vgl. VG Aachen, Urteil vom 8.11.2006, Az.: 6 K 2099/05.A unter Hinweis auf OVG Münster, Urteil vom 19.4.2005, Az. 8 A 273/04.A, S. 100 f des amtlichen Umdrucks). Wenn auch derartige kurzfristige Maßnahmen im Einzelfall für die Betroffenen äußerst unangenehm sein mögen, versetzen sie ihn jedoch nicht in die für die Gewährung von Asyl vorauszusetzende ausweglose Lage (s.a. VG München, Urteil vom 26.9.2005, M 24 K 05.50459).

Eine derartige Lage könnte sich für die Klägerin nur aus der im Jahre 1999 während ihrer Inhaftierung erlittenen Vergewaltigung ergeben. Allerdings setzt die Gewährung des Asylrechts voraus, dass ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung-Flucht-Asyl besteht.

Auch im vorliegenden Fall geht das Gericht davon aus, dass die als Maßnahme politischer Verfolgung zu wertende Vergewaltigung der Klägerin im Jahre 1999 nicht (mehr) für ihre mehr als sieben Jahre später erfolgte Ausreise im Jahre 2006 ursächlich war. Bereits nach dem äußeren Ablauf ist die Klägerin nicht aus ihrer Heimat "geflüchtet", vielmehr hat sie sich von den türkischen Behörden einen Reisepass und ein zum Besuch ihrer in Deutschland lebenden Geschwister berechtigendes Visum ausstellen lassen. Hier angekommen, hat sie sich mit der Asylantragstellung fast ein halbes Jahr Zeit gelassen, obwohl von einem Schutz suchenden Ausländer in der Regel zu erwarten wäre, dass er sich alsbald nach Einreise an die für das Asylverfahren zuständigen Stellen wendet; für die Klägerin hätte es nahe gelegen, spätestens mit Ablauf des zweimonatigen Besuchervisums und vor Beginn des unerlaubten Aufenthalts im Sinne von § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Asylantrag zu stellen (vgl. auch § 14 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG).

Im Ergebnis vermochte die Klägerin das Gericht in der mündlichen Verhandlung nicht davon zu überzeugen, dass sie ihr Land tatsächlich in einer für sie ausweglosen Lage nach erlittener Vorverfolgung verlassen hat.

Insbesondere rechtfertigt die aktuelle Erkenntnislage nicht mehr die Prognose, dass nahen Angehörigen von gesuchten Aktivisten einer staatsfeindlichen türkischen Organisation ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Sippenhaft droht (vgl. OVG Münster, Urteil vom 19.4.2005, a.a.O.; OVG Lüneburg, a.a.O.; VG Aachen, a.a.O.). Insbesondere lassen die vorliegenden Erkenntnisse keine konkreten Informationen über ausreichend verifizierbare Fälle zu, aus denen sich eine beachtliche Wahrscheinlichkeit asylerheblicher Übergriffe auch gegen Ehegatten landesweit gesuchter Aktivisten ergibt. Die zitierten Urteil weisen darauf hin, dass der Schluss zulässig sei, dass sich die Praxis des Zugriffs türkischer Behörden auf Familienangehörige einer gesuchten Person verändert habe und die Wahrscheinlichkeit, im Zusammenhang mit der Suche nach einem Familienangehörigen Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden, insgesamt stark gesunken sei.

Im vorliegenden Fall ist dabei von besonderer Bedeutung, dass der Ehemann der Klägerin offenbar nur in untergeordneter Art und Weise für die PKK tätig war und möglicherweise noch ist, so dass er keinesfalls landesweit gesucht wird; die Klägerin hat jedenfalls die Frage, ob ihr Ehemann länger andauernd verhaftet und auch strafrechtlich belangt worden sei, verneint.

Ist aber keines der durch Art. 16a Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter im Falle der Rückkehr der Klägerin in die Türkei in Gefahr, so scheidet auch die Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG aus, der sich hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter und des politischen Charakters der Verfolgung mit denen der Anerkennung einer Asylberechtigung nach § 16a Abs. 1 GG deckt.

Zu den hilfsweise geltend gemachten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hat der Bevollmächtigte keine näheren Ausführungen gemacht. Es ist davon auszugehen, dass die psychische Erkrankung der Klägerin auch und weiterhin - wie bisher - in der Türkei behandelt werden kann. Ob ein dauerhafter Behandlungserfolg ohne ambulante Therapie möglich ist, kann nicht vorhergesagt werden, spielt jedoch im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG, der eine unmittelbar und konkret drohende Gefahr für Leib und Leben verlangt, keine Rolle. Eine derartige Gefahr ist im Falle der Rückkehr in die Türkei jedenfalls nicht ersichtlich.