OLG Saarland

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Zitieren als:
OLG Saarland, Beschluss vom 13.12.2006 - OLG Ausl. 35/06 - asyl.net: M10508
https://www.asyl.net/rsdb/M10508
Leitsatz:

Keine Auslieferung eines als Flüchtling anerkannten PKK-Angehörigen wegen Gefahr der Misshandlung, eines Politmalus im Strafverfahren und der Verwertung von erzwungenen Aussagen; keine verlässliche Feststellung einer verbesserten Menschenrechtslage möglich

 

Schlagwörter: Türkei, Auslieferung, Kurden, PKK, Strafverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Misshandlungen, Folter, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Staatsschutzdelikte, Politmalus, Verwertungsverbot, fair trial, faires Verfahren, Strafverfahren, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Friedenskomitee im Saarland
Normen: IRG § 6 Abs. 2; EuAlÜbk Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

Keine Auslieferung eines als Flüchtling anerkannten PKK-Angehörigen wegen Gefahr der Misshandlung, eines Politmalus im Strafverfahren und der Verwertung von erzwungenen Aussagen; keine verlässliche Feststellung einer verbesserten Menschenrechtslage möglich

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung ist unzulässig.

1. Nach § 6 Abs. II IRG i.V.m. Art. 3 Abs. II EuAlÜbk ist eine Auslieferung dann nicht zulässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung wegen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen verfolgt oder bestraft, oder dass seine Lage aus diesem Grunde erschwert werden würde.

Bereits das dem Verfolgten im Asylverfahren durch Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. April 2003 (vgl. Bl. 140ff. BA) zugebilligte Abschiebungshindernis gem. § 51 Abs. 1 AuslG (a.F.) stellt - auch wenn insoweit keine Bindungswirkung besteht - ein beachtliches Beweisanzeichen dafür dar, dass ihm im Falle seiner Auslieferung politische Verfolgung droht (vgl. BVerfGE 52, 391ff.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 218; Schomburg-Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 4. Aufl., § 6 IRG Rn. 43). Wie dem vorgenannten Bescheid zu entnehmen ist, hat der Verfolgte in der Türkei politische Aktivitäten für die PKK entfaltet, wobei er ins Blickfeld türkischer Sicherheitsbehörden geraten und dort zur ständigen Fahndung ausgeschrieben worden ist. Er habe deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei von zu erwartenden Ermittlungsmaßnahmen in einer gegenüber nichtpolitischen Straftätern verschärften Weise mit Misshandlung oder Folter zu rechnen.

Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wurden in der Vergangenheit in der Türkei gerade Angehörige linksgerichteter und prokurdischer Organisationen nicht nur wegen ihrer politischen Anschauungen verfolgt, sondern trotz des gesetzlichen Verbotes durch Anwendung von Folter vor allem im Polizeigewahrsam härter als andere Gefangene menschenrechtswidrig behandelt und so gezwungen, ihre Verbindungen und Aktivitäten preiszugeben (vgl. OVG NRW Beschl. v. 19. April 2005 - 8 A 273/04A -; Beschl. v. 1. Dezember 2005 - 8 A 4037/05A - OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 346 m. w. Nachweisen aus der Verwaltungsgerichtsrechtsprechung).

Der Senat verkennt nicht, dass in den vergangenen Jahren in der Türkei eine Vielzahl von Reformen eingeleitet wurden, um die türkischen Gesetze in Einklang mit internationalem Recht zu bringen und die Kriterien zum Beitritt in die Europäische Union zu erfüllen. Deshalb hebt der Lagebericht des AA vom 27. Juli 2006 (im Folgenden: Lagebericht) hervor, dass sich die Menschenrechtslage bezüglich Folter und Misshandlung im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 erheblich verbessert habe. Zwar seien Fälle schwerer Folter nur noch vereinzelt festzustellen, andererseits sei die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch als unbefriedigend zu bezeichnen (Lagebericht S. 35). Diesbezüglich sieht der UNHCR sogar Rückschritte im Reformprozess in der Türkei. Einige Gesetzesänderungen in der türkischen StPO und dem türkischen StGB wie z.B. die Wiedereinführung von Geld- und Bewährungsstrafen bei Folter und die Straffreiheit bei "Handeln auf Befehl" führten in der Praxis dazu, dass die Bemühungen um Eindämmung der Folter unterlaufen oder revidiert würden (vgl. Stellungnahme des UNHCR vom 15. August 2006 in dem Verfahren OLG Frankfurt 2 AuslA 36/06, Anl. zum Schriftsatz des Beistandes vom 4. Dezember 2006).

Bei dieser Sachlage lässt sich derzeit nicht abschließend und verlässlich beurteilen, ob die von der türkischen Regierung eingeleiteten Reformen schon so durchgreifende Wirkung gezeitigt haben, dass die ursprüngliche Gefährdungslage bei einer Auslieferung des Verfolgten an die Türkei entfallen könnte. Geht es jedoch um das Bestehen eines Auslieferungshindernisses, müssen sich diese Zweifel zu Gunsten des Verfolgten auswirken (KG StV 1996, 103; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 346).

2. Hinzu kommt, dass weitere Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Auslieferungshindernisses bestehen.

Das Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung ist insbesondere dann zu prüfen, wenn dem Auslieferungsersuchen eine Ahndung staatsfeindlicher Aktivitäten durch die Anwendung von Staatsschutzdelikten - wie hier § 168 TStGB - dient, deren Unrechtsgehalt ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Angriff auf das politische Rechtsgut geprägt ist. Wird der nur generalklauselartige Tatbestand des Staatschutzdeliktes im Einzelfall aber nur genutzt, um eine Verletzung individueller Rechtsgüter der Bürger in der bei Ahndung solcher Taten üblichen Weise zu bestrafen, insbesondere Maßnahmen zur Abwehr des Terrorismus zu treffen, so liegt keine politische Verfolgung vor. Sie ist indes zu bejahen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen (besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahme, "Politzuschlag" bei der Strafzumessung, Vorschieben krimineller Handlungen, Fälschung von Beweismaterial, Manipulation des Tatvorwurfes, unzureichende Sachbehandlung) trotz des kriminellen Charakters der zur Rede stehenden Tat zu befürchten ist, dass dem Verfolgten eine Behandlung droht, die aus politischen Gründen härter ausfällt als die sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat übliche (vgl. BVerfGE 80, 315; 81, 142; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. Mai 2003 - 4 Ausl.(A) 308/02 -; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 218).

Derartige Indizien für eine unzureichende Sachbehandlung durch die türkischen Justizbehörden liegen hier vor.

Zwar wird dem Verfolgten im Auslieferungsersuchen nur die Mitgliedschaft in der "Terrorvereinigung PKK" zur Last gelegt, wobei der näheren Umschreibung zu entnehmen ist, dass die Anwerbung neuer Mitglieder und deren Kontrolle und Anleitung gemeint ist. Aus den vom Beistand im Asylverfahren vorgelegten Urkunden (vgl. Bl. 70ff. BA) ergibt sich jedoch, dass der Verfolgte in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 94/C-18/340-371 beschuldigt wird, im Jahre 1992 ein Komitee gegründet und geleitet zu haben, Spendengelder gesammelt zu haben, an einem Brandanschlag gegen eine Atatürk-Büste, an Anschlägen mit Molotow-Cocktails auf verschiedene Einrichtungen und einen Bus beteiligt gewesen zu sein, sowie zusammen mit einem anderen einen Polizeibeamten getötet zu haben. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat nicht sicher anzunehmen, dass in dem Verfahren wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung die weit schwerwiegenderen Vorwürfe in einer Weise außer Acht bleiben, dass eine nachteilige Berücksichtigung in Verfahren und Strafzumessung auszuschließen wäre. Insoweit sieht der Senat angesichts der bestehenden Gefahr politischer Verfolgung auch keinen ausreichenden Schutz durch die Spezialitätsbindung des Art. 11 IRG (vgl. Brandenb. OLG Beschl. v. 28. Mai 1997 - 2 Ausl. (A) 7/97 - ; grundsätzlich zur Problematik Schomburg/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 4. Aufl., § 6 IRG Rn. 49ff.).

3. Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass dem Verfolgten in verfahrensrechtlicher Hinsicht eine Benachteiligung droht, insofern nämlich, dass seine Verurteilung aufgrund einer in rechtsstaatswidriger Weise erzwungenen Aussage erfolgen könnte.

Nach ständiger - vom Senat geteilter - höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerfG StV 04, 438; BGH NStZ 02, 166 m.w.N.) haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens des ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht gehindert zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung vereinbar sind (BVerfGE 59, 280; NJW 1991, 1411; StV 04, 439).

Zu diesen Mindeststandards gehört die Einhaltung der in Art. 15 des UN-Antifolterabkommens vom 10. Dezember 1984 niedergelegten Verpflichtung, durch Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlangte Aussagen in einem Strafverfahren nicht als Beweis zu verwenden (vgl. BVerfG StV 1997, 361, 363; NStZ 1994, 492f). Die Verwertung erzwungener Geständnisse stellt einen gravierenden, mit rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen unvereinbaren strafprozessualen Mangel sowie einen Verstoß gegen Art. 5 und 6 EMRK dar. Zwar hat die Türkei dieses Abkommen ratifiziert und dessen Vorgaben durch entsprechende Beweisvervvertungsverbote (Art. 38/6 der türkischen Verfassung; Art. 135a, 254/2 TStPO) in innerstaatliches Recht umgesetzt. Das allein genügt jedoch nicht. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass die Praxis ihrer Justiz das Verbot auch tatsächlich beachtet. Ansonsten reichen auch formelle Garantien des ersuchenden Staates nicht aus (vgl. Lagodny-Schomburg-Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 4. Aufl., § 10 IRG Rn. 40).

Aus dem Vorbringen des Beistandes ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass in dem Verfahren gegen den Verfolgten in der Türkei eine Aussage gegen ihn verwendet werden wird, die durch Folter erzwungen wurde.

Zwar haben die türkischen Gerichte grundsätzlich bei ihren strafrechtlichen Entscheidungen nicht nur die bereits erwähnten gesetzlichen Beweisverwertungsverbote, sondern drüber hinaus auch die Rechtsprechung des türkischen Kassationshofes zu berücksichtigen, der im Jahre 2005 ein Urteil aufgehoben hat mit der Begründung, dass Zeugenaussagen durch Folterungen erzwungen worden seien (vgl. Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 9. November 2005, zit. nach Lagebericht S. 35). Andererseits wird in diesem Bericht auf ein von Amnesty International, der Stiftung Pro Asyl und der Holtfort-Stiftung am 23. Februar 2006 vorgelegtes Gutachten zu "Rechtstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei" verwiesen, wonach türkische Gerichte in politischen Strafverfahren weiterhin auf der Grundlage erfolterter Geständnisse verurteilen (Lagebericht S. 25).

4. Letztlich hatte auch Berücksichtigung zu finden, dass der Verfolgte in leitender Position Mitglied des türkischen Friedenskomitee im Saarland ist (vgl. Bl. 104ff. BA). Es ist davon auszugehen, dass kurdische Oppositionelle wie der Verfolgte, die sich in exilpolitisch besonderer Weise exponiert betätigen, in besonderer Weise unter Beobachtung durch türkische Sicherheitsorgane stehen. Eine strafrechtliche Verfolgung haben insbesondere Personen zu befürchten, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter und Aufwiegler angesehen werden (vgl. Lagebericht S. 31). Zutreffend gehen saarländisches VG und OVG deshalb davon aus, dass in diesen Fällen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass solchen Personen bei ihrer Rückkehr in die Türkei Folter und menschenrechtswidrige Behandlung droht (vgl. OVG des Saarlandes, Beschl. v. 10. Dezember 1997 - 9 Q 248/96 - und vom 20. November 1997 - 9 Q 105/97 -; VG des Saarlandes Urteil vom 30. März 2006 - 6 K 164/05.A m. zahlreichen Hinweisen aus der Verwaltungsgerichtsrechtsprechung).