FG Köln

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Zitieren als:
FG Köln, Urteil vom 09.05.2007 - 10 K 983/04 - asyl.net: M10466
https://www.asyl.net/rsdb/M10466
Leitsatz:

§ 26 Abs. 2 EStG in der Fassung ab Dezember 2006 gilt nicht für Altfälle, da die Übergangsregelung des § 52 Abs. 61 a S. 2 verfassungswidrig ist.

 

Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Duldung, Altfälle, Rückwirkung, Verfassungsmäßigkeit, Gleichheitsgrundsatz, Ablehnungsbescheid, Regelungswirkung, Verwaltungsakt, Dauerwirkung
Normen: EStG § 52 Abs. 61a S. 2; EStG § 26 Abs. 2; GG Art. 100 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

§ 26 Abs. 2 EStG in der Fassung ab Dezember 2006 gilt nicht für Altfälle, da die Übergangsregelung des § 52 Abs. 61 a S. 2 verfassungswidrig ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist insgesamt zulässig und begründet. Der Klägerin steht das beantragte Kindergeld zu, weil die Ausweisung der Klägerin auf unbestimmte Zeit nicht möglich ist und sie sich seit über einem Jahr geduldet in der BRD aufhält.

I. Die Klage ist nicht nur hinsichtlich des Kindergelds für die Monate April 2003 bis Februar 2004 zulässig, sondern auch hinsichtlich der Monate März bis Dezember 2004.

c) Der erkennende Senat ist der Auffassung, dass weitgehende Konkordanz zwischen den unterschiedlichen Ansätzen des VIII. Senat und des III. Senat, die einmal die Wirkung eines Ablehnungsbescheids für die Vergangenheit und einmal für künftige Monate zum Gegenstand hatten, in der Weise hergestellt werden kann, dass der Regelungsinhalt von Ablehnungsbescheiden differenziert beurteilt wird, je nachdem, ob die Ablehnung bestandskräftig geworden ist oder im Klageverfahren angefochten wird. Wird die Ablehnung nicht angefochten, bleibt es bei dem Grundsatz, dass ein Ablehnungsbescheid lediglich den Kindergeldanspruch für die bis zur Bekanntgabe abgelaufenen Monate regelt und deshalb keine Wirkung für die Kindergeldansprüche künftiger Monate entfaltet. Wird die Regelung hingegen im Klageverfahren angefochten, ist im anschließenden Urteil eine Verpflichtung des Familienkasse auch für künftige Monate möglich. Die Legitimation, Ablehnungsbescheiden einen unterschiedlichen Regelungsinhalt beizumessen, je nachdem ob sie bestandskräftig oder im Klageverfahren angefochten werden, ergibt sich daraus, dass für nicht bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte im Klageverfahren andere Änderungsvorschriften fortgelten als bei bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakten, für die etwa § 172 AO 1977 nicht gilt.

II. Die Klage ist auch begründet. Die Kindergeldberechtigung der Klägerin für die Monate bis einschließlich Dezember 2004 ergibt sich aus § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG 1996, der vor dem Hintergrund des BVerfG-Beschlusses vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) entgegen seinem Wortlaut einschränkend dahin auszulegen ist, dass der Ausschluss von Ausländern von der Kindergeldberechtigung nicht für solche ausländischen Eltern gilt, die auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können und die sich seit mindestens 1 Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhalten.

1. Entgegen den Ausführungen des BFH in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03 (auf der Homepage des BFH erschienen am 9. Mai 2007) lehnt der erkennende Senat die Anwendung der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG vom 13. Dezember 2006 auf den Streitfall ab, weil er deren Erstreckung auf Altfälle durch die Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG für verfassungsrechtlich unzulässig hält.

a) Gemäß § 62 Abs. 2 EStG, der durch Art. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 (AuslAnsprG - BGBl I 2006, 2915, BStBl I 2007, 62) an die Systematik der Aufenthaltstitel nach dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (AufenthG - BGBl I 2004, 1950) angepasst worden ist, hängt die Kindergeldberechtigung von nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern, denen lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG wegen eines Krieges im Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erteilt worden ist (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG) davon ab, dass sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten und darüber hinaus im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG).

c) Danach müsste die Kindergeldberechtigung im Streitfall versagt und die Klage abgewiesen werden. Der erkennende Senat wendet die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG vom 13. Dezember 2006 jedoch nicht auf den Streitfall an.

aa) Das BVerfG hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) entschieden, dass § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl. I 1993, 2353), durch den Ausländer von Kindergeld ausgeschlossen wurden, die lediglich im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis waren, mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Ausländer ihren ausländerrechtlichen Status nicht beeinflussen könnten, befand das BVerfG, dass eine an der Art des Aufenthaltstitels ausgerichtete Differenzierung zwischen ausländischen Eltern nicht durch Gründe von hinreichendem Gewicht gerechtfertigt sei. Denn der Gesetzgeber dürfe bei der Bestimmung der Art und Weise des Familienleistungsausgleichs nicht allein aus fiskalischen Erwägungen eine Gruppe von Personen, gegenüber denen der Staat aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG grundsätzlich zu einem Ausgleich verpflichtet sei, von einer bestimmten Leistung ausschließen, die anderen gewährt werde. Bei Ausländern, die legal in Deutschland lebten, sei unabhängig von der Art des Aufenthaltstitels zu berücksichtigen, dass sie - wie auch Deutsche - in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet seien. Soweit es Ziel der gesetzlichen Neuregelung gewesen sei, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, die sich auf Dauer in Deutschland aufhalten, sei die Regelung ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen, weil einerseits diejenigen, die über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, sich nicht typischerweise nur kurzfristig in Deutschland aufhielten, andererseits eine Aufenthaltserlaubnis auch befristet bei kurzfristigem Aufenthalt erteilt werde. Ebenso hat der EuGHMR mit Urteil vom 25. Oktober 2005 in der Sache 59140/00 (DStR 2006, 1404, BFH/NV 2006, Beilage 3, 357) entschieden, dass der Ausschluss von im Inland lebenden Ausländern ohne Aufenthaltsberechtigung vom deutschen Kindergeld gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.

bb) Das BVerfG hat dem Gesetzgeber in seinem o. a. Beschluss vom 6. Juli 2004 eine Frist bis zum 1. Januar 2006 gesetzt, die verfassungswidrige Norm durch eine Neuregelung zu ersetzen. Andernfalls sollte auf alle noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht anzuwenden sein, d.h., das BKGG in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I 1990, 1354). Nach dieser Regelung haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in der BRD aufhalten, einen Kindergeldanspruch, wenn sie nach den §§ 51, 53 und 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.

cc) Vor diesem Hintergrund teilt der erkennende Senat nicht die Auffassung des III. Senats des BFH, der sowohl die Neuregelung des § 62 Abs. 2 EStG als auch die Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG über die rückwirkende Erstreckung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf vor dem 1. Januar 2005 verwirklichte Sachverhalte (Altfälle) für verfassungsrechtlich unbedenklich hält (BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03, a.a.O.).

aaa) Die Anordnung einer derartigen Rückwirkung auch auf Altfälle ist weder verfassungsgemäß noch entspricht sie dem Grundsatz der gegenseitigen Achtung von Verfassungsorganen. Das BVerfG hatte dem Gesetzgeber in seinem Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) einen klaren, bis zum 1. Januar 2006 befristeten Regelungsauftrag erteilt und die Nichterfüllung dieses Auftrags mit der Anordnung der Anwendbarkeit des bis zum 31. Dezember 1993 gültigen Rechts sanktioniert. Daraus ergibt sich, dass sämtliche offenen Altfälle ab Januar 2006 entscheidungsreif waren, da der Gesetzgeber den verfassungsgerichtlichen Regelungsauftrag ignoriert hat. In einer Vielzahl der offenen Fälle hätte deshalb das Kindergeld auf der Grundlage des bis 1993 gültigen Rechts gewährt werden müssen, wenn die Gerichte dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot entsprochen hätten. Der erkennende Senat hat - wie viele andere Finanzgerichte und der BFH - von einer Entscheidung der Fälle nur deshalb abgesehen, weil die beklagte Behörde immer wieder um ein Zuwarten mit der Entscheidung im Hinblick auf die zu erwartende Neuregelung gebeten hatte. Wenn der Gesetzgeber es in einer solchen Situation in der Hand hätte, durch eine rückwirkende Anwendungsregelung eines verspätet erlassenen Gesetzes den klaren Sanktionsausspruch des Verfassungsgerichts zu umgehen, hätte dies zur Konsequenz, dass Kindergeld in allen Fällen hätte gewährt werden müssen, in denen die Gerichte sogleich unter Beachtung des Beschleunigungsgebotes entschieden hätten, während es in allen anderen Fällen, in denen die Gerichte im Vertrauen auf die zu erwartende Neuregelung gewartet hätten, nicht zu gewähren wäre. Eine derart unterschiedliche Behandlung gleicher Tatbestände hält der erkennende Senat für verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar.

bbb) Darüber hinaus hält der erkennende Senat auch die Neuregelung selbst für nicht verfassungsgemäß. Insoweit wird Bezug genommen auf die zur Veröffentlichung bestimmten Vorlagebeschlüsse betreffend das Kindergeld für die Monate ab Januar 2005 in den Sachen 10 K 1689/07 und 10 K 1690/07 vom heutigen Tage.

ccc) Die rückwirkende Anwendung der Neuregelung ist auch nicht aufgrund der Verwerfungskompetenz des BVerfG gemäß Art. 100 GG geboten. Ein unterinstanzliches Gericht kann einer für verfassungswidrig gehaltenen Norm in eigener Zuständigkeit die Anwendung versagen, wenn das BVerfG bereits eine Entscheidung zu einer vergleichbaren Rechtsvorschrift getroffen hat (vgl. BFH-Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/04, BStBl II 2005, 26; Niedersächsisches FG, Urteil vom 23. Januar 2006 16 K 12/04, EFG 2006, 751). Dies muss auch gelten, wenn der Gesetzgeber eine verfassungsgerichtliche Regelungsfrist dadurch umgeht, dass er den Anwendungsbereich einer Neuregelung auf bereits abgeschlossene Sachverhalte vorverlagert.

2. Aus diesem Grund richtet sich die Kindergeldberechtigung der Klägerin im Streitfall für die Monate bis einschließlich Dezember 2004 nach § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG 1996.