VG Schleswig-Holstein

Merkliste
Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.11.2006 - 6 A 372/05 - asyl.net: M10340
https://www.asyl.net/rsdb/M10340
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, allgemeine Gefahr, Genfer Flüchtlingskonvention, Änderung der Sachlage, Baath, Machtwechsel, Terrorismus, Kriminalität, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

1. Die Klage ist unbegründet, soweit sie sich gegen den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG richtet und die Feststellung begehrt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG vorliegen.

Zwar hat die Kammer mit Grundsatzurteil vom 30.06.2005 - 6 A 59/05 - das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen in einem gleichgelagerten Fall mit der Begründung verneint, dass es einem irakischen Flüchtling, der in Deutschland als politisch Verfolgter anerkannt worden ist, gemäß Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GK nicht zugemutet werden könne, den Schutz seines Heimatlandes angesichts dessen offensichtlicher Unfähigkeit zur Schutzgewährung in Anspruch zu nehmen.

Dieser Auffassung ist das OVG Schleswig in nunmehr ständiger Rechtsprechung nicht gefolgt. Allein aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit schließt sich der erkennende Richter der von der Rechtsauffassung der Kammer abweichenden Einschätzung des OVG Schleswig an. Dieses hat in seinem Grundsatzurteil vom 18.05.2006 - 1 LB 117/05 - seine Auffassung im Wesentlichen wie folgt begründet: ...

bb) Dem Kläger droht nach dem Sturz des Saddam-Regimes auch keine erneute Verfolgung im Irak.

(1) Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass von der irakischen Regierung oder den - die Regierung unterstützenden - multinationalen Streitkräfte im Irak (MNF) Verfolgungsgefahren ausgehen, die den Kläger individuell gefährden, liegen nicht vor.

Soweit den irakischen Sicherheitskräften oder den MNF in Einzelfällen Menschenrechtsverletzungen (Gewalt, Folter) vorgeworfen und auf die (noch) unzureichende Ausbildung der Polizei, ihre "Unterwanderung" durch sog. Aufständische oder "Milizen" und mangelnde Loyalität hingewiesen wird (Lagebericht, a.a.O., zu III.1, 24), erwachsen daraus - individuell für den Kläger - keine Verfolgungsgefahren. In seinem Fall ist nicht einmal davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in den Irak überhaupt in das "Blickfeld" der Sicherheitskräfte geraten könnte. Er kehrt als arabischer Schiit in den Irak zurück und trifft dort auf eine Regierung, an der ein schiitisches Wahlbündnis (UIA) maßgeblich beteiligt ist.

(2) Die aus Terroranschlägen militanter oppositioneller oder krimineller Gruppen, Clans oder von Einzelpersonen oder aus sonstigen Übergriffen Dritter resultierenden Gefährdungen betreffen generell alle Bürgerinnen und Bürger des Landes; ein individueller, den Kläger betreffender Verfolgungsgehalt i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG ist daraus nicht zu entnehmen.

2. Die Klage ist jedoch begründet, soweit die Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG verneint hat.

Das ergibt eine Auslegung der Vorschrift an Hand des § 15 c der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004). Diese Richtlinie (nachstehend: RL) ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 geltendes Recht mit unmittelbarer Wirkung. Soweit grundsätzliche Kompatibilität mit den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes besteht, sind dessen Bestimmungen richtlinienkonform auszulegen.

In diesem Lichte wird § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch § 15 c RL ergänzt. Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zu gewähren bei einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Diese Richtlinienmerkmale sind hier gegeben.

2.1. Der zentrale und südliche Irak, außerhalb der autonomen kurdischen Provinzen, ist gegenwärtig einem "innerstaatlichen Konflikt" unterworfen.

Das ergibt sich bereits aus den in dem Urteil des OVG Schleswig (aaO) dargestellten Lagebeschreibung.

Die in diesem Urteil beschriebenen Gewalttätigkeiten sind zwischenzeitlich noch erheblich eskaliert.

Gemäß dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2006 hat sich die Situation im Irak durch "tausende terroristische Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanten oppositionellen Gruppierungen einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits seit Beendigung der Hauptkampfhandlungen Anfang Mai 2003" kontinuierlich verschlechtert.

Entsprechend hat das Auswärtige Amt im Internet eine Reisewarnung hinsichtlich des Iraks herausgegeben mit u. a. folgendem Inhalt:

"Vor Reisen nach Irak wird eindringlich gewarnt. Deutschen Staatsangehörigen wird dringend geraten, das Land zu verlassen.

Bei Anschlägen und Feuergefechten kommen monatlich mehrere tausend Menschen ums Leben. Eine besondere Gefährdung geht von Sprengfallen aus, die an Straßenrändern installiert und deren Zünder durch vorbeifahrende Fahrzeuge ausgelöst werden. Zwischen den multinationalen Streitkräften und irakischen Sicherheitskräften auf der einen und unterschiedlichen militanten Gruppen auf der anderen Seite kommt es täglich zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Überfälle mit Waffengewalt sind an der Tagesordnung. Die staatlichen Sicherheitskräfte sind Berichten zufolge teilweise von militanten und kriminellen Gruppen unterwandert. Das Risiko von Entführungen ist sehr hoch. Ausländer sind in besonderem Maße gefährdet...

Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bagdad ist für Publikumsverkehr geschlossen. Aufgrund der Sicherheitslage und der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten kann es deshalb schwierig oder unmöglich sein, in Not geratenen Deutschen zu helfen." (Auswärtiges Amt, Irak, Reisewarnung und Hinweise, Stand: 27.11.2006; www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/laenderinformation/irak/sicherheits-hinweise).

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zitiert einen Bericht des US-Verteidigungsministeriums an den Kongress über die Gewalt im Irak. Danach besteht dort die Gefahr eines Bürgerkriegs. Ein wachsendes Problem für die Bevölkerung seien vor allem die paramilitärischen Banden, die Menschen angegriffen. Auch die Gewalt zwischen den verschiedenen Volksgruppen weite sich immer mehr aus. Die Sicherheitslage werde in dem Bericht als "sehr schwierig" beschrieben (GfbV an VG Wiesbaden vom 11.09.2006).

Das Deutsche Orientinstitut konstatiert, dass sich im Irak ein hinsichtlich Motivation, Durchdringung und Zusammenarbeit schwer auseinanderzudividierendes Netz von teils politischer, teils rein krimineller, teils aus einer Mischung beider Motivationsstränge bestehendes Verbrecherunwesen etabliert habe, das für die zahllosen Anschläge und Mordtaten verantwortlich sei (DOI an VG Aachen vom 01.09.2006).

Zwar ergibt sich auch aus dieser aktualisierten Lagebeschreibung keine Bürgerkriegssituation im herkömmlichen Sinne, wo auf beiden Seiten reguläre Streitkräfte beteiligt sind. Der Begriff des "innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes" beschränkt sich aber bereits seinem Wortlaut nach nicht auf eine derartige militärische Sondersituation. Eine andere Auslegung widerspreche auch von vornherein dem weiteren Tatbestandsmerkmal der "willkürlichen Gewalt". Denn dieser Begriff wird für militärische Auseinandersetzungen unter Kombattanten allgemein nicht verwendet.

Bei teleologischer Auslegung liegt deshalb ein "innerstaatlicher bewaffneter Konflikt" vielmehr bereits regelmäßig dann vor, wenn er von unabsehbarer Dauer ist und eine solche Intensität aufweist, dass die in seinem Rahmen stattfindende willkürliche Gewalt zu einer individuellen Bedrohung von Leib und Leben führt (vgl. die Hinweise des Bundesinnenministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13. Oktober 2006 zu 2.5 - nachstehend: Hinweise Bundesministerium des Innern -). Diesem Maßstab entspricht die dargestellte Krisensituation im zentralen und südlichen Irak.

2.2 Aus dieser alltäglichen Gewalt im Irak folgt zugleich deren willkürlicher Charakter. Der konkrete Eintritt einer akuten Bedrohung für Leib und Leben ist völlig unberechenbar und zugleich für jedermann jederzeit möglich.

2.3 Aufgrund der vorhandenen willkürlichen Gewalt, deren Ende nicht einmal langfristig absehbar ist, ergibt sich für den Kläger bei Rückkehr in seine Heimat eine ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben. Dieser Begriff ist entgegen der Meinung des Bundesinnenministers unter tz2.5 seiner Hinweise nicht dahingehend einzuengen, dass eine Verletzung der genannten Rechtsgüter "gleichsam unausweichlich" sein muss. Eine solche Einengung wäre mit dem Begriff "ernsthafte Bedrohung" unvereinbar. Denn der Richtliniengeber hat gerade nicht eine "unausweichliche", im Sinne einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintretende Rechtsgutverletzung zur Voraussetzung gemacht, was ohne weiteres möglich gewesen wäre. Der gewählte Begriff "ernsthafte" Bedrohung liegt somit seinem Wortlaut nach bereits deutlich unterhalb dieser Schwelle. Auch dies wird durch das Tatbestandsmerkmal "infolge willkürlicher Gewalt" verdeutlicht. Es liegt nämlich in der Natur der Willkür, dass eben nicht berechenbar ist, mit welchem konkreten Wahrscheinlichkeitsgrad die Rechtsgutverletzung im Einzelfall eintritt.

Dass § 15 c RL keine zeitlich und örtlich jederzeit für den Einzelnen bestehende Bedrohung fordert, zeigt auch der Vergleich dieser Bestimmung mit § 15 b RL, wo tatbestandsmäßig eindeutig der letztere gesteigerte Gefahrenbegriff voraussetzt wird. Da nämlich eine Bedrohung des "Lebens und der Unversehrtheit" ein Unterfall der "unmenschlichen Behandlung" in § 15 b RL darstellt, wäre diese Bestimmung überflüssig, wenn ihr der gleiche strenge Gefährdungsmaßstab zugrunde läge, wie in § 15 b RL.

Somit ergibt sich, dass eine "ernsthafte Bedrohung" des Lebens und der Unversehrtheit nach § 15 c RL schon dann gegeben ist, wenn die Risiken unmittelbar drohen und nicht nur eine entfernt liegende Möglichkeit darstellen (UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/93/EG, Mai 2005 S. 32). Diese Risiken sind nach der vorstehenden Lagebeschreibung zweifelsfrei gegeben.

2.4 Sie stellt sich auch für diesen gesamten Personenkreis, somit auch für den Kläger als eine individuelle "Bedrohung" im Sinne von Art. 15 c RL dar. Denn hierbei handelt es sich um keine Gefahr, die im Sinne von Ziffer 26 Erwägungen RL, welcher die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe des Landes allgemein ausgesetzt ist und somit "normalerweise" keine individuelle Bedrohung darstellt. Denn die Gefährdungslage für irakische Rückkehrer ist grundsätzlich deutlich höher, als für im Irak ansässige Bewohner.

Ein insoweit Gefahr erhöhendes Moment besteht bereits darin, dass Rückkehrer eher in den Verdacht geraten, sich mit westlichen Lebensmaximen und Moralvorstellungen zu identifizieren. Solche Personen gelten angesichts der verstärkten Hinwendung großer Teile der irakischen Bevölkerung zu streng islamistischen Traditionen und Glaubensgrundsätzen und der überwiegend ablehnenden Haltung gegenüber den unter Federführung der USA agierenden internationalen Truppen häufig pauschal als "Verräter"; dies kann gezielte Verfolgungsmaßnahmen auslösen.

Darüber hinaus sind Rückkehrer im Vergleich zu anderen Irakern einem erhöhten Kriminalitätsrisiko ausgesetzt. Infolge ihres Auslandsaufenthalts gelten sie, insbesondere wenn sie aus dem westlichen Ausland zurückkehren, im Vergleich zu den im Irak Verbliebenen als vermögend und werden daher häufig zum Ziel von Raubüberfällen. Dieses Risiko wird durch das Fehlen ausreichender sicherer Inlandsflugverbindungen erhöht, was dazu führt, dass viele Rückkehrer nur noch auf dem Landweg zu ihren Herkunftsorten im Irak reisen können. Dabei kommt regelmäßig auch zu Raubüberfällen, Entführungen und Tötungen (vgl. insgesamt UNHCR an VG München vom 06. Oktober 2005).

Zusätzlich erhöht sich die Gefahrenlage für irakische Rückkehrer, die mehrere Jahre im Ausland gelebt haben auch dadurch, dass sie, anders als die ansässige Bevölkerung, keinerlei Erfahrungen im Umgang mit den tagtäglichen Gefahrensituationen haben. Sie sind aufgrund dieser Unerfahrenheit nicht in der Lage, die Alltagsgefährdung durch entsprechendes Verhalten zu minimieren.

Auf der anderen Seite ist das individuelle Verfolgungsrisiko von Rückkehrern letztlich nur unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles einschätzbar (vgl. UNHCR aaO). Dazu gehört die Größe der Familie, Herkunft, Sippenzugehörigkeit und Glaubensbekenntnis und Beruf.

Aufgrund dieser erhöhten individuellen Gefährdungssituation irakischer Rückkehrer greift auch von vornherein nicht die Sperrwirkung des § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG.