VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 22.01.2007 - 7 E 631/06 - asyl.net: M10082
https://www.asyl.net/rsdb/M10082
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Sperrwirkung, Wirkungen der Abschiebung, Befristung, Ermessen, Ausländerbehörde, Assoziationsberechtigte, Türken, Arbeitnehmer, Familienangehörige, Ermessensreduzierung auf Null, Eltern-Kind-Verhältnis, Umgangsrecht
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; SGB VIII § 6 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass der Bescheid der Beklagten vom 17.01.2006 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet wird, die Wirkungen der am 04.07.2002 vollzogenen Abschiebung der Klägerin auf den 22.01.2007 zu befristen.

Verbleibt es bei der Anwendung der Regel des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, so steht die Festlegung der Frist im gesetzlich nicht weiter gebundenen Ermessen der Ausländerbehörde. Nach der einschlägigen Rechtsprechung u.a. auch zur Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG sind bei der Bestimmung der Frist insbesondere, das Verhalten nach der Ausweisung, dass Verhalten vor und bei der Abschiebung, die inzwischen verstrichene Zeit sowie Veränderungen der maßgeblichen Sachlage und Verbesserungen im Vergleich zur ursprünglichen Sicherheits- und Gefahrenprognose zu berücksichtigen (vgl. nur: Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 11 AufenthG Rdnr. 12 unter Verweis auf Renner, AuslR in Deutschland, 1998, S. 308). Darüber hinaus ist aber auch zu berücksichtigen, ob die der Abschiebung zugrundeliegende Verfügung in objektiv-rechtlicher Hinsicht mit Recht und Gesetz in Einklang stand oder ob sich - ggf. auch im Nachhinein - deren objektive Rechtswidrigkeit erwiesen hat.

Die mit Verfügung der Beklagten vom 27.12.2001 erfolgte Versagung der Verlängerung der der Klägerin erteilten Aufenthaltserlaubnis und der darauf bezogene Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 13.03.2002 erweisen sich jedenfalls im Nachhinein als rechtswidrig. In diesen Verfügungen ist nämlich verkannt worden, dass die Klägerin aufgrund des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 EWG-Türkei aufenthaltsrechtlich privilegiert war und daher assoziationsrechtlich haltbare Gründe zur Versagung des Aufenthaltsrechts nicht vorgelegen hatten. Der Klägerin stand zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über ihren Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ein eigenständiges unmittelbares Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 EWG-Türkei zu. Eine Kompetenz der Beklagten, die Entscheidung über die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu treffen, lagen somit nicht vor.

Die Klägerin war jedoch assoziationsrechtlich begünstigt gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Ausweislich der vorliegenden Behördenakten ist die Klägerin Ende 1970 gemeinsam mit ihren Eltern und vier weiteren Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Die Mutter der Klägerin führte den Haushalt. Der Lebensunterhalt der Familie wurde durch das Erwerbseinkommen des Ehemannes bestritten.

Es daher davon auszugehen, dass die Klägerin als Tochter eines türkischen Arbeitnehmers seit mehr als fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz im Bundesgebiet hatte und diese somit in die höchste aufenthaltsrechtliche Verfestigung des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 gelangt ist.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass ein bestandskräftiger Verwaltungsakt, der offensichtlich unvereinbar mit Gemeinschaftsrecht ist, zurückzunehmen ist und dass eine Verpflichtung der Verwaltungsgerichte besteht, alle Konsequenzen aus der festgestellten offensichtlichen Unvereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu ziehen (vgl. nur EuGH, Urteil vom 19.09.2006 - C - 292/04, C - 422/04, InfAuslR 2006, 439). Es bedarf im Rahmen des vorliegenden Verfahrens keiner Entscheidung darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin rückwirkend wieder in ihre assoziationsrechtliche Position einzusetzen. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nämlich allein die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Befristungsentscheidung vom 17.01.2006. Mit Blick auf die zitierte Entscheidungspraxis des EuGH erweist sich jedoch im Falle der Klägerin eine ihrem Antrag entsprechende Befristung der Wirkung der Abschiebung von 04.07.2002 auf den Tag der mündlichen Verhandlung, den 22.01.2007, als allein ermessensgerechte Entscheidung. Insoweit ist das Ermessen der Beklagten auf Null reduziert. Daher ist diese antragsgemäß zu verpflichten.

Im Hinblick auf die gegebene Ermessensentscheidung auf Null bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob die Beklagte die nach wie vor bestehenden familiären Bezüge zum Bundesgebiet angemessen gewichtet hat. Immerhin leben die beiden minderjährigen Kinder der Klägerin im Bundesgebiet und es bestehen regelmäßige Kontakte zwischen diesen und der Klägerin.

In diesem Zusammenhang ist auch § 6 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII i.d.F. des Senates zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 08.09.2005 (BGBl. I S. 2729 - KICK) zu beachten. Nach dieser Vorschrift haben Umgangsberechtigte (wie die Klägerin) unabhängig von ihrem tatsächlichen Aufenthalt Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts, wenn das Kind oder der Jugendliche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Zwar ist die entsprechende Aufgabe primär den Trägern der Jugendhilfe zugewiesen.

Die mit dieser Regelung getroffene Entscheidung des Gesetzgebers zu einer möglichst effektiven Ausübung des Umgangsrechts ist aber als öffentlicher Belang gegebenenfalls auch im Rahmen einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung mit zu berücksichtigen.