VG Frankfurt a.M.

Merkliste
Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 14.03.2007 - 1 E 5342/06 - asyl.net: M10078
https://www.asyl.net/rsdb/M10078
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Mitglieder, verfassungsfeindliche Bestrebungen, Kalifatsstaat, schwerwiegende Gründe, besonderer Ausweisungsschutz
Normen: AufenthG § 54; AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 56 Abs. 1; ENA Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Ausweisung des Klägers ist durch das Gesetz gedeckt. Mit dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof ist allerdings davon auszugehen, dass die Voraussetzungen der Regelausweisung nach § 54 AufenthG nicht nachweisbar sind, weil es sich bei der Organisation "Kalifatstaat", deren Unterstützern der Kläger zugerechnet wird, nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zwar um eine verfassungsfeindliche, nicht jedoch um eine terroristische Vereinigung handelt und weil keine Handlungen des Klägers nachweisbar sind, die belegen, dass er die freiheitlich demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt, dazu aufruft oder damit droht (HessVGH Beschl. v. 10.01.2006 - 12 TG 1911/05; s.a. BVerwG, Urt. v. 31.05.1994 - 1 C 5/93 -, NVwZ 1995, 1127). Da er auch nicht im Sinne des §§ 53, 54 AufenthG vorbestraft ist und somit also weder die Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG noch die Voraussetzungen für eine Regelausweisung (§ 54 AufenthG) vorliegen, so liegen doch jedenfalls, wie die Widerspruchsbehörde zu Recht festgestellt hat, die Voraussetzungen der Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG vor. Danach kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.

Die Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich jedoch aus der Mitgliedschaft des Klägers in einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation. Es ist dabei unerheblich, ob der Kläger in dieser Organisation Aktivitäten entwickelt hat oder sein Verhalten dem einer "Karteileiche" entspricht. Zur öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gehört nämlich auch, dass der illegale Fortbestand verbotener verfassungsfeindlicher Organisationen nicht geduldet wird. Der Aufenthalt von Ausländern, die als passive Mitglieder einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation angehören, beeinträchtigt als solcher die öffentliche Ordnung. Jede Organisation, das gilt für verfassungskonforme ebenso wie für verfassungsfeindliche, lebt nämlich nicht nur von dem Engagement ihrer Aktivisten, sondern zu einem erheblichen Teil auch von den inaktiven Unterstützern, die beispielsweise durch bloße Zahlung von Mitgliedsbeiträgen oder auch nur durch ihre mit der Mitgliedschaft zum Ausdruck kommende Zustimmung die Aktivisten zu ihrem Engagement ermutigen und befähigen. Auch inaktive Mitglieder einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation tragen zu deren Fortexistenz im Untergrund bei und sorgen damit dafür, dass das Verbot faktisch nicht oder nur eingeschränkt wirksam wird.

Aufgrund der Ermittlungen des Verfassungsschutzes und der Polizei, deren Resultat der Kläger im Übrigen nicht bestritten hat, steht fest, dass der Kläger Mitglied der Organisation "Kalifatstaat" oder jedenfalls der Ümmet-Moschee ist, bei der es sich um einen dem "Kalifatstaat" zuzurechnenden Mitgliedsverein handelt.

Die Vereinigung "Kalifatstaat" ist durch Verfügung des Bundesministerium des Innern vom 8.12. 2001 auf der Grundlage des Vereinsgesetzes verboten worden. Diese Verfügung ist nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.11.2002 (- 6 A 4.02 -, NVwZ 2003, 986 ff.) bestandskräftig.

Wenn auch das persönliche Engagement des Klägers für den "Kalifatstaat" oder ihm nahestehende Organisationen noch nicht die Schwelle zu einer von ihm persönlich ausgehenden Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 54 Nr. 5a AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -, NVwZ 2005, 1091) übersteigt und deshalb die Voraussetzungen der Regelausweisung nicht vorliegen, so ergibt sich aus den oben genannten Erwägungen jedoch, dass seine Mitgliedschaft in dieser Vereinigung jedenfalls in erheblicher Weise die öffentliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, so dass die Ausweisung im Ermessen der Ausländerbehörde steht (§ 55 Abs. 1 AufenthG).

Der Ausweisung des Klägers steht nicht der Umstand entgegen, dass er wegen seiner Einreise als Minderjähriger und seines mehr als 29jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 AufenthG und nach Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13.12.1955 (ENA - BGBl 1959 II 997) genießt.

In der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Frage, ob die passive Mitgliedschaft in einer verbotenen verfassungsfeindlichen Organisation bereits einen besonders schwerwiegenden Grund darstellt, der dazu führt, dass die Ausweisung trotz des besonderen Ausweisungsschutzes zulässig ist, bisher, soweit ersichtlich, allerdings noch nicht entschieden worden.

Im übrigen kann aus der Rechtsprechung nur der allgemeine Obersatz festgehalten werden, dass Ausweisungsgründe nur dann als (besonders) schwerwiegend qualifiziert werden können, wenn sie eine spezialpräventive Funktion erfüllen, nicht dagegen, wenn ihnen in erster Linie generalpräventive Überlegungen zugrunde liegen. Außerdem ist davon die Rede, dass es ein "dringendes Bedürfnis" dafür geben muss, den Ausländer auszuweisen. Die maßgeblichen Gründe müssen so gewichtig sein, dass die Anwesenheit des Ausländers nicht weiter hingenommen werden kann (BVerwG, Urt. v. 11.06.1996 - 1 C 24/94 -, NVwZ 1997, 298).

In den von der Rechtsprechung bisher behandelten Fällen ging es stets um die Gewichtung von Straftaten und die Gefahr der Fortsetzung oder gar Steigerung derartiger strafbarer Handlungsweisen. In diesem Zusammenhang orientiert sich die Rechtsprechung daran, dass die mehr lästigen als gefährlichen oder schädlichen Unkorrektheiten des Alltags, Ordnungswidrigkeiten und Übertretungen, Bagatellkriminalität und ganz allgemein die minder bedeutsamen Verstöße gegen Strafgesetze nicht die Qualität schwerwiegender Gründe erreichen, wohl aber die Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität (BVerwG, Urt. v. 03.05.1973 - I C 33.72 -, BVerwGE 42, 133 [138]).

Die passive Mitgliedschaft in einer verbotenen verfassungswidrigen Vereinigung stellt jedoch bereits als solche eine Verhaltensweise dar, die das dringende Bedürfnis begründet, den Kläger aus der Bundesrepublik zu entfernen. Nur mittels solcher Maßnahmen kann das Sympathisantenumfeld ausländischer verfassungsfeindlicher Vereinigungen trocken gelegt und damit der Vereinigung selbst die Existenzgrundlage entzogen werden. Während gewöhnliche Straftaten in erster Linie die Verletzung privater Rechtsgüter zum Gegenstand haben und die Gesellschaft mit einem gewissen Bestand an Kriminalität leben muss, aber auch leben kann, ohne dass die staatliche Verfassung selbst dadurch gefährdet wird, rührt die Unterstützung organisierter verfassungsfeindlicher Bestrebungen an die Grundfesten der staatlich verfassten Gesellschaft selbst. Deshalb müssen hier auch vergleichsweise geringfügige Unterstützungshandlungen, auch wenn sie als solche überhaupt nicht strafrechtlich geahndet werden, ausländerrechtlich mindestens ebenso ins Gewicht fallen wie Straftaten aus dem Bereich der mittleren oder schweren Kriminalität.