VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 23.02.2007 - 1 K 356/05.A - asyl.net: M10023
https://www.asyl.net/rsdb/M10023
Leitsatz:
Schlagwörter: Simbabwe, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, politische Entwicklung, alleinstehende Personen, alleinerziehende Frauen, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen katastrophaler Versorgungslage in Folge des Niedergangs der Landwirtschaft und der wirtschaftlichen Krise in Simbabwe.

 

Die aufrechterhaltene Klage ist zulässig und begründet.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von einer derartigen Gefahr ist im Fall der Klägerin angesichts der gegenwärtigen Lage in Simbabwe und der persönlichen Situation der Klägerin auszugehen.

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist allerdings im Zusammenhang mit den Regelungen in dessen Satz 2 sowie in § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu sehen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG werden Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, in diesem Staat allgemein ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG können daher auch dann keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers "gesperrt", wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht. Ausländern, die der allgemein gefährdeten Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe angehören, für die ein Abschiebestopp nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht besteht, ist jedoch ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn keine anderen Abschiebungsverbote gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, wobei diese Folgen zwar unmittelbar nach der Heimkehr, aber nicht unbedingt noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat eintreten müssen.

Eine derartige extreme Gefahr für die Klägerin ist für den Fall ihrer Abschiebung nach Simbabwe anzunehmen.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen befindet sich Simbabwe in einem katastrophalen wirtschaftlichen Notstand. Die von der Regierung Mugabe seit 2000 betriebene Enteignung der weißen Farmer hat zu einem dramatischen Niedergang des Landes geführt. Die landwirtschaftliche Produktion ist auf ein Minimum gesunken, weil die schwarzen Farmer wegen des Mangels an Saatgut und Finanzen scheitern. Simbabwe hat seit 1999 ca. 40 % des Bruttosozialprodukts eingebüßt und ist mit einer Inflationsrate von über 1000 % globaler Spitzenreiter. 80 % der Bevölkerung sind arbeitslos. Die Infrastruktur zerfällt, die Wasser- und Stromversorgung droht zusammenzubrechen, es fehlt an Treibstoff, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung existiert kaum mehr, von rechtstaatlichen Verhältnissen kann nicht mehr die Rede sein. Bürgerrechte sind drastisch eingeschränkt worden. Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen nehmen zu. Polizei und Militär gehen immer brutaler insbesondere gegen Angehörige der Opposition und Bürgerrechtsorganisationen vor. Im Mai 2005 hat die Regierung Mugabe im Rahmen ihrer "Operation Müllbeseitigung" gewaltsam Slumsiedlungen zerstört, wodurch 700.000 Menschen ihre Unterkunft verloren haben. Auch im Mai 2006 wurden etwa 10.000 Straßenkinder und Obdachlose aus der Hauptstadt Harare vertrieben. Armut und Hunger breiten sich aus. Die Lebenserwartung ist auf 33 Jahre gesunken. Mehr als drei Millionen Simbabwer sind aus dem Land geflohen, von der verbliebenen Bevölkerung sind 30 % unterernährt. Internationale Hilfsorganisationen werden bei ihrer Arbeit durch staatliche Stellen behindert, die Vereinten Nationen konnten geplante Hilfsmaßnahmen im Jahr 2005 nicht durchführen. Ein Ende der verheerenden Lage Simbabwes ist nicht in Sicht, nachdem die Amtszeit Mugabes bis 2010 verlängert worden ist (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 2007 ("Es fehlt an allem in Zimbabwe"); Frankfurter Rundschau vom 19. Dezember 2006 ("Mugabes verlängerte Amtszeit empört die Opposition"); Neue Zürcher Zeitung vom 1. November 2006 ("Human Rights Watch prangert Simbabwe an"); Neue Zürcher Zeitung vom 24. Oktober 2006 ("Resignation und Apathie im Reich des Robert Mugabe"); Die Tageszeitung vom 31. Mai 2006 ("Flucht vor dem Regime Mugabes"); Berliner Zeitung vom 17. Mai 2006 ("Aktion Müllbeseitigung"); Die Welt vom 16. Februar 2006 ("Polizei in Simbabwe hält nach Demonstration Frauen und Kinder fest"); amnesty international Deutschland: Simbabwe - Jahresbericht 2006; Focus vom 5. September 2005 ("Simbabwe versinkt in Armut und Elend"); Süddeutsche Zeitung vom 1. September 2005 ("Regierung Mugabe schränkt Bürgerrechte drastisch ein"); Die Tageszeitung vom 31. August 2005 ("Simbabwe entrechtet seine Bürger weiter"); Süddeutsche Zeitung vom 13. Juli 2005 ("Feldzug gegen das eigene Volk"); Die Welt vom 30. Juni 2005 („Schlächter seines eigenen Volkes"); Tagesspiegel online vom 21. Juni 2005 ("Krieg gegen die Armen"); Institut für Afrika-Kunde an das Verwaltungsgericht Arnsberg vom 8. Oktober 2004; Auswärtiges Amt an das Verwaltungsgericht Arnsberg vom 23. März 2004).

Angesichts dieser Situation ist davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Simbabwe keine hinreichende und zumutbare Lebensgrundlage finden und deshalb jedenfalls schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Nach ihren Angaben, an deren Glaubhaftigkeit zu zweifeln das Gericht keinen Anlass sieht, verfügt die Klägerin in Simbabwe über keine verwandtschaftlichen Bindungen und nach der Vertreibung des Weißen, auf dessen Farm sie gelebt und gearbeitet habe, auch über keinen Zufluchtsort mehr. Als gerade 18jährige allein stehende Mutter eines Kleinkinds hätte sie damit keine realistische Chance, trotz der noch zunehmend durch Armut, Arbeits-, Obdachlosigkeit, Hunger und Vertreibung gekennzeichneten Lage in Simbabwe in ihr zumutbarer Weise ihren Lebensunterhalt sicherzustellen.