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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 20.02.2001 - 9 C 21.00 - asyl.net: M0726
https://www.asyl.net/rsdb/M0726
Leitsatz:

1. Die erleichterten Anforderungen an die Qualifizierung von Verfolgungsmaßnahmen in einem noch andauernden Bürgerkrieg als quasi-staatliche, politische Verfolgung gelten nicht nur für die Asylgewährung nach Art. 16 a GG, sondern auch für § 51 Abs. 1 AuslG und die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A Nr. 2 GFK (im Anschluss an das gleichzeitig ergangene Urteil vom 20. Februar 2001 – BVerwG 9 C 20.00 -).

2. Die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG kann nicht kumulativ begehrt werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Verfolgungsbegriff, Quasi-staatliche Verfolgung, Taliban, Berufungsverfahren, Streitgegenstand, Abschiebungshindernis
Normen: GG Art. 16a; AsylVfG § 25; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53; GFK Art. 1 A; GFK Art. 33; VwGO § 44
Auszüge:

Soweit das Berufungsgericht die Beklagte verpflichtet hat, dem Kläger zu 1 Asyl nach Art. 16 a GG und den Klägern zu 2 bis 6 die Rechtsstellung von Asylberechtigten im Wege des Familienasyls nach § 26 AsylVfG zu gewähren, steht dem - wie auch die Kläger nicht verkennen - schon entgegen, dass die Berufungsentscheidung keine Feststellungen zum Einreiseweg der Kläger (vgl. Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG) enthält.

Soweit das Berufungsgericht dem Kläger zu 1 Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung nach § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen hat, verletzt die Entscheidung ebenfalls Bundesrecht und erweist sich - entgegen der Ansicht der Kläger - nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Es bedarf vielmehr auch insoweit weiterer tatrichterlicher Aufklärung.

Die in der Berufungsentscheidung zur Frage einer quasi-staatlichen Verfolgung zugrunde gelegten Maßstäbe und Schlussfolgerungen des Berufungsgerichts entsprechen nicht in vollem Umfang dem Bundesrecht; das gilt auch unter Beachtung der zurückverweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sich unmittelbar nur auf Art. 16 a GG bezieht (Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 - NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518). Allerdings ist der Begriff der politischen Verfolgung in § 51 Abs. 1 AuslG nicht anders auszulegen als in Art. 16 a GG. Im Ergebnis gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die gleichen Grundsätze für die nähere Bestimmung des in den Schutzbereich des § 51 AuslG einbezogenen Personenkreises der Flüchtlinge und Verfolgten im Sinne von Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBI 1953 11 S. 559, Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -; stRspr, vgl. zuletzt Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 15.96 - BVerwGE 104, 254, 256 f. m.w.N.). Die erleichterten Anforderungen an die Qualifizierung von Verfolgungsmaßnahmen durch Bürgerkriegsparteien in einem noch andauernden Bürgerkrieg als quasi-staatliche, politische Verfolgung sind daher auf die - in entsprechender Anwendung der Grundsätze aus Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (BGBI 1985 11 S. 926) gewonnene - Auslegung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Nr. 2 GFK und dessen Anwendung zu übertragen.

Die Frage, ob in einer Bürgerkriegssituation nach dem Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen kann, ist danach zu beurteilen, ob diese zumindest in einern Kernterritorium ein Herrschaftsgefüge - von gewisser Stabilität - im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung - tatsächlich errichtet hat (vgl. im Einzelnen das gleichzeitig ergangene Urteil im Parallelverfahren BVerwG 9 C 20.00 im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 a.a.O.). Für die in erster Linie maßgebliche Frage nach der Beschaffenheit des Herrschaftsgefüges im Innern des beherrschten Gebietes zwischen dem verfolgenden Machthaber und den ihm unterworfenen Verfolgten bedarf es der Feststellung und Bewertung, ob eine übergreifende Friedensordnung mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol existiert, die von einer hinreichend organisierten, effektiven und stabilen Gebietsgewalt in einem abgrenzbaren (Kern-) Territorium getragen wird. Das setzt vor allem eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft voraus, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates. Die anhaltende äußere militärische Bedrohung schließt das Bestehen eines staatsähnlichen Herrschaftsgefüges im Innern nicht zwingend aus. Je nach ihrer Stärke kommt einer solchen Bedrohung allerdings erhebliches indizielles Gewicht für eine solche Annahme zu, das aber in dem Maße abnimmt, in dem der Bürgerkrieg ohne entscheidende Veränderung der Machtverhältnisse andauert. Die Tatsachengerichte müssen beachten, dass allein wegen eines andauernden äußeren Bürgerkriegsgeschehens die Annahme politischer Verfolgung nicht praktisch auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sein kann. Entsprechendes gilt für Bedrohungen der Herrschaftsgewalt im Innern, etwa durch lokale Machthaber, autonome Stammes- oder Clanfürsten oder rebellierende Untertanen (vgl. das Urteil im Parallelverfahren BVerwG 9 C 20.00).

Diesen Grundsätzen wird die Berufungsentscheidung nicht voll gerecht. Insbesondere hat das Berufungsgericht die als Indiz zu beachtende Stabilität des von ihm allein als staatsähnlich qualifizierten Herrschaftsgefüges der Taliban "nach außen", d. h. vor allem im Verhältnis zu den seinerzeit noch agierenden Bürgerkriegsparteien, nicht in den Blick genommen. Das ist bereits im ersten Revisionsurteil als Rechtsfehler beanstandet worden und auch mit dem geänderten Maßstab nicht vereinbar. Insoweit verletzt die Berufungsentscheidung nach wie vor Bundesrecht.

Wie in der Revisionsverhandlung erörtert, können die unzureichenden Feststellungen nicht dadurch vervollständigt werden, dass der Senat neue Tatsachen zur Entwicklung der Lage in Afghanistan seit der Berufungsentscheidung vom Juli 1997 verwertet (vgl. auch dazu im Einzelnen das Urteil im Parallelverfahren BVerwG 9 C 20.00).

Der Senat kann danach im Revisionsverfahren nicht selbst entscheiden, ob in Afghanistan zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 51 Abs. 1 AuslG) fähige Herrschaftsorganisationen bestanden haben oder bestehen, die den Kläger zu 1 bei einer Rückkehr wegen seiner politischen Vergangenheit in der vom Berufungsgericht festgestellten Art und Weise beachtlich wahrscheinlich verfolgen würden.

Der Senat weist ferner darauf hin, dass das Berufungsgericht - sollte es den Machtbereich der Taliban wiederum als quasi-staatliche Herrschaftsorganisation ansehen - gegebenenfalls zusätzlich prüfen muss, ob den Klägerinnen zu 2 bis 4 und 6 bei einer Rückkehr politische Verfolgung durch die fundamentalistischen Taliban auch wegen ihres Geschlechts droht (vgl. zur Asylerheblichkeit dieses Merkmals das zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehene Urteil vom 25. Juli 2000 - BVerwG 9 C 28.99 - UA S. 6, NVwZ 2000, 1426) .

Dagegen muss das Berufungsgericht, sollte es Ansprüche nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG verneinen, über die Hilfsanträge zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG nicht mehr entscheiden, da den Klägern bereits rechtskräftig Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1 AuslG zuerkannt ist. Über diesen Teil des ursprünglichen Streitstoffes ist damit abschließend entschieden. Bei dem Verpflichtungsbegehren auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG handelt es sich jedenfalls im Asylverfahren um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand.

Mit diesem Begehren wird ein und derselbe prozessuale Klageanspruch geltend gemacht, der in den Absätzen 1, 2 und 4 des § 53 AuslG lediglich unterschiedliche rechtliche Anspruchsgrundlagen (Rechtsgründe) findet, die aber jeweils auf dieselbe gleichrangige und gleichartige Rechtsfolge gerichtet sind.