BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.01.2001 - 9 C 16.00 - asyl.net: M0152
https://www.asyl.net/rsdb/M0152
Leitsatz:

Ein Asylbewerber, dem in seinem Heimatstaat politische Verfolgung droht, kann nur dann auf das Gebiet einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn er es in zumutbarer Weise erreichen kann (im Anschluß an BVerwGE 110, 74 und 104, 265). Eine Rückkehr in die sicheren Landesteile unmittelbar vom Ausland aus kann in diesem Sinne nur dann unzumutbar sein, wenn sie ihm dauerhaft nicht möglich ist. (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Erreichbarkeit, Reisewege, Reisedokumente, Transit-Visum, Türkei (A), Freiwillige Ausreise, Sachaufklärungspflicht
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; VwGO § 86 Abs. 1
Auszüge:

Die Frage der Erreichbarkeit des Gebietes einer inländischen Fluchtalternative stellt sich für den im Ausland befindlichen Asylbewerber allerdings grundsätzlich anders als für denjenigen, der sich in seinem Heimatstaat in einem Gebiet aufhält, in dem ihm (regionale) politische Verfolgung unmittelbar droht. Wer bei einer Rückkehr in den Heimatstaat die sicheren Landesteile zwar nicht vom Inland, aber unmittelbar vom Ausland aus erreichen kann, bedarf des asylrechtlichen Schutzes nicht. Asylrechtlich unbeachtlich ist in einem solchen Fall auch die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder typischerweise behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Die Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG in Verbindung mit Art. 1 A GFK ist in solchen Fällen mithin erst gerechtfertigt, wenn feststeht, dass ihm die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates, die auch sonst alle Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative erfüllt, dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Diese Grundsätze stehen entgegen der Auffassung des Bundesbeauftragten nicht in Widerspruch zum Urteil des Senats vom 15. April 1997 (a.a.O. S. 277 ff.). Dort hat das Bundesverwaltungsgericht bereits betont, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG besteht - allein darum ging es in jenem Zusammenhang -, wenn die festgestellte Zufluchtsmöglichkeit bei Ankunft im Zielland nicht zumutbar erreicht werden kann und damit nur theoretisch existiert (a.a.O. S. 279). Die nur vorübergehende Unmöglichkeit der Rückreise in den Heimatstaat begründet hingegen regelmäßig lediglich ein von der Ausländerbehörde festzustellendes Vollstreckungshindernis im Sinne des § 55 Abs. 2 oder Abs. 4 Satz 1 AuslG (a.a.O. S. 278). Die Pflicht des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, im Streitfall zu klären, ob der Asylbewerber bei seiner Rückkehr die inländische Fluchtalternative entweder bei Ankunft im Heimatstaat oder jedenfalls direkt vom Ausland aus überhaupt zumutbar erreichen kann, wurde damit nicht in Frage gestellt.

Es wird allerdings vielfach kein Anlass bestehen, die Erreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative im Rahmen des Asylverfahrens ausdrücklich zu prüfen und festzustellen. Wie das Bundesverwaltungsgericht bereits in dem Urteil vom 16. November 1999 (a.a.O., S. 77) betont hat, ist es in erster Linie Sache des Asylbewerbers, substantiiert Tatsachen vorzutragen, die ausnahmsweise eine Rückkehr in verfolgungsfreie Orte des Heimatsstaates als unzumutbar erscheinen lassen können. Nur wenn die dauerhafte Nichterreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative substantiiert geltend gemacht wird oder sich die Frage ernsthaft aufdrängt, bedarf es der ausdrücklichen Auseinandersetzung damit.

In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht geprüft, ob der Beigeladene, der nicht im Besitz gültiger irakischer Reisepapiere ist, den Nordirak unmittelbar vom Ausland aus erreichen kann. Denn bei der Rückreise über den Zentralirak hätte er nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung zu befürchten. Das Fehlen der Reisepapiere begründet danach ein möglicherweise dauerhaftes Rückreisehindernis in den Nordirak, da dem Beigeladenen auch nicht zugemutet werden könne, bei der irakischen Auslandsvertretung in der Bundesrepublik Deutschland Pass oder Rückreisepapiere zu beantragen. Ein solcher Antrag ziehe Nachforschungen im Irak zur Feststellung der Identität des Antragstellers nach sich und führe ebenfalls zum Bekanntwerden der ungenehmigten Ausreise und des ungenehmigten Verbleibs im Ausland und damit zwangsläufig zur Vermutung der Asylantragstellung im wesentlichen Ausland. Angesichts dieser Feststellungen hat es das Berufungsgericht zu Recht nicht bei der Annahme bewenden lassen, dass Reisepapiere regelmäßig besorgt werden könnten.

Es mag dahinstehen, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den grundsätzlich in Frage kommenden Rückreisewegen in den Nordirak durch Syrien, den Iran oder die Türkei die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts tragen, der Beigeladene könne das sichere Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen, und ob das Berufungsgericht damit die dauerhafte Nichterreichbarkeit gemeint hat. Das Berufungsurteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil diese auch aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen Feststellungen vom Bundesbeauftragten erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen werden. Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht einen Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung der Frage, ob der Beigeladene ohne gültige irakische Reisepapiere vor allem über die Türkei in den Nordirak einreisen kann, hätte sich das Berufungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die der Türkei als Grundlage für ein Transitvisum genügten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Gerade vor dem Hintergrund des auch vom Berufungsgericht gewürdigten Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 31. Oktober 1997 an die nachgeordneten Ausländerbehörden, wonach ausreisepflichtigen (passlosen) irakischen Staatsangehörigen bis zu einer gegenteiligen Erfahrung zur Ausreise in den Irak ein Reisedokument auszustellen und Gelegenheit zum Eintrag eines türkischen Visums zu geben sei, hätten sich dem Berufungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des Bundesbeauftragten weitere Erkundigungen beim Staatsministerium des Innern und beim Auswärtigen Amt dazu aufdrängen müssen, ob und inwieweit auf der angesprochenen Grundlage die freiwillige Rückkehr in den Nordirak möglich ist, insbesondere ob und in welchem Umfang solche Reisepapiere und Transitvisa bereits erteilt worden sind.