Zum Begriff des Ausweisungsinteresses in § 54 AufenthG:
Die Verwirklichung eines der in § 54 AufenthG genannten Tatbestände begründet nicht unmittelbar das Ausweisungsinteresse. Erforderlich ist vielmehr, dass der weitere Aufenthalt der Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (hier: Verurteilung zu 180 Tagessätzen wegen der Erschleichung von Duldungen muss nicht zwingend zu einem Ausweisungsinteresse führen, wenn keine Wiederholungsgefahr besteht).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
2. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss die Rechtsauffassung des Beklagten bestätigt und festgestellt, dass nach summarischer Prüfung zu Gunsten der Klägerin kein Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse bestehe. [...]
3. Die Beschwerde hat Erfolg.
3.1 Die Klägerin trägt in ihrer Beschwerde mit Schriftsatz vom 20. Juni 2023 zusammengefasst vor: Nur aktuelle Verletzungen der aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflicht stünden gemäß § 25a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis entgegen. Nach der Rechtsprechung setze der Ausschlussgrund ein aktuelles, d. h. im Moment der potenziellen Titelerteilung noch andauerndes Fehlverhalten voraus. Dies sei nicht mehr der Fall. Hinsichtlich des sich aus dem Strafbefehl ergebenen Ausweisungsinteresses sei anzumerken, dass hier eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses zu machen sei, da eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung künftig auszuschließen sei. Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Mitwirkungspflichten oder gar Verletzungen aufenthaltsrechtlicher Strafvorschriften seien nicht zu befürchten, da die Klägerin nunmehr ihre Identität aufgedeckt habe. Insoweit erwiesen sich auch die Ermessenserwägungen des Beklagten im Hinblick auf § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als fehlerhaft.
3.2 Unter Berücksichtigung der mit der Beschwerde vorgetragenen Gründe und nach nochmaliger Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt sich, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt, dem Eintritt der Bewilligungsreife mit Einreichung der ausgefüllten Prozesskostenhilfeunterlagen, die Erfolgsaussichten der Klage als offen zu bezeichnen waren. [...]
Es kann nämlich nicht ohne weiteres geklärt werden, ob dem Klagebegehren entgegengehalten werden kann, dass die Klägerin die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt, wonach kein Ausweisungsinteresse bestehen darf. Zwar trifft die Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts zu, dass die Klägerin auf Grund ihrer Verurteilung zu einer Geldstrafe in Höhe von 180 Tagessätzen zu je 10 Euro grundsätzlich ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 8a und Nr. 9 AufenthG verwirklicht haben könnte. Allerdings ist offen, ob der weitere Aufenthalt der Klägerin die durch eine Ausweisung zu schützenden Rechtsgüter gefährdet.
Unter einem Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ein Tatbestand zu verstehen, der in § 54 AufenthG definiert ist. Dabei ist keine hypothetische Ausweisungsprüfung in der Weise vorzunehmen, dass geklärt würde, ob eine Ausweisung des Antragstellers rechtmäßig wäre, so dass es auch keine Rolle spielt, ob ein Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG besteht [...].
Allerdings begründet die Verwirklichung eines der in § 54 AufenthG genannten Tatbestände nicht unmittelbar das Ausweisungsinteresse. Ein solches Interesse besteht nur dann, wenn von dem Betroffenen eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, der weitere Aufenthalt des Ausländers also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt oder sonst erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Demgegenüber ist ein Ausweisungsinteresse nicht mehr erheblich, wenn ohne vernünftige Zweifel feststeht, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die mit dem Ausweisungsinteresse zusammenhängt, nicht mehr besteht [...].
Die vom Beklagten und vom Verwaltungsgericht mit der Bejahung eines Ausweisungsinteresses stillschweigend getroffene Feststellung, von der Klägerin gehe noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in diesem Sinne aus, ist mit ihrem Hinweis darauf, dass sie außer der abgeurteilten Straftat keine weiteren Straftaten begangen habe und die Wiederholung einer ähnlichen Straftat ausgeschlossen werden könne, weil sie nach Offenlegung ihrer wahren Identität keine Straftaten i. S. des § 95 AufenthG mehr verwirklichen werde, hinreichend in Frage gestellt. Es ist angesichts des bisherigen Verhaltens der Klägerin zweifelhaft, dass sie erneut aufenthaltsrechtlich strafbar werden wird. Dies folgt insbesondere auch daraus, dass sie eigenen Aussagen nach ihre Identität nur verschleiert hatte, um ihrem Sohn eine Zukunft im Bundesgebiet zu ermöglichen. Nachdem dieser einen Aufenthaltstitel besitzt, besteht aus Sicht der Klägerin mithin kein Grund mehr, erneut zu täuschen. Für einen allgemeinen Hang zur Begehung von Straftaten bietet ihr bisheriges Verhalten keinen Anlass. Dass ein Ausweisungsinteresse auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden könnte, ist bislang weder vorgetragen noch ersichtlich. Das Verwaltungsgericht wird daher Gelegenheit haben, im Rahmen des Klageverfahrens die oben angegebenen Voraussetzungen für das Vorliegen eines aktuellen Ausweisungsinteresses zu prüfen.
Die Klage ist auch nicht deshalb ohne Erfolg, weil die Klägerin andere allgemeine Erteilungsbedingungen gemäß § 5 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllen würde. Der Beklagte wies in seinem Ablehnungsbescheid zwar darauf hin, dass die Klägerin möglicherweise nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sei, sie die für die Erteilung maßgeblichen Angaben nicht bereits im Visumantrag gemacht habe (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und dass sie ihre Reisepasspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 3 AufenthG gegenwärtig nicht erfülle, da der vorgelegte Reisepass zwischenzeitlich abgelaufen sei. Allerdings hat der Beklagte im Hinblick auf das Visumerfordernis auf § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG hingewiesen und ist der Frage nach der Erfüllung der Reisepasspflicht nicht weiter nachgegangen, insbesondere auch deshalb, weil die Klägerin möglicherweise ausreichende Bemühungen anstellt, um bei der Botschaft ihres Heimatlandes eine Verlängerung des Reisepasses zu bewirken. Da von der Pflicht der Einreise mit einem Visum gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessenswege abgesehen werden kann und die Ermessenserwägungen bislang maßgeblich auf das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses gestützt wurden, ist zusammenfassend nicht voraussehbar, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG gegeben sind, daher nicht von diesem Erfordernis abgesehen werden kann.
Schließlich ist die Heranziehung von § 25 Abs. 5 AufenthG nicht von vornherein ausgeschlossen, weil die Vorschrift von den spezielleren Regelungen der §§ 25a, 25b AufenthG verdrängt sein könnte. Denn die Klägerin beruft sich im Hinblick auf Ausreisehindernisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG, wie gesehen, nicht nur auf ihre Integrationsleistungen und ihre Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch darauf, dass sie weiterhin die Betreuung und den Lebensunterhalt für ihren Sohn garantiert. Dies sind Gründe, die auch der Beklagte - wie sich aus dem Ablehnungsbescheid und den der Klägerin weiterhin erteilten Duldungen ergibt - akzeptiert hat. Insoweit dürfte es zu keinem Anwendungsvorrang der §§ 25a, 25b AufenthG kommen.
Nach alldem ist festzustellen, dass wenigstens der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG derzeit keine zwingenden Versagungsgründe entgegenstehen. Der Erfolg einer diesbezüglichen Klage ist daher als offen anzusehen. [...]