VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 05.11.1998 - 1 A 688/97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13808
Leitsatz:
Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Strafverfolgung, Scharia, Anti-Terrorismus-Gesetz, Religiöses Existenzminimum, Verfolgungsdichte, Mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, Übergriffe, Misshandlungen, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Zurechenbarkeit, Vorverfolgung, Glaubwürdigkeit
Normen: GG Art. 16a; PPC Art. 295 C
Auszüge:

Bei zusammenfassender Wertung und Würdigung der hier maßgeblichen (asylrelevanten) Umstände besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung der Kläger.

Eine solche läßt sich jedoch nicht schon daraus herleiten, daß die Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft etwa einer Gruppenverfolgung ausgesetzt waren oder werden könnten. Denn nach allen der Kammer zugänglichen Erkenntnissen liegt es so, daß zwar Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft in Pakistan immer wieder erhebliche Nachteile und Übergriffe hinzunehmen haben, aber daß die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung nicht vorliegen.

Das gilt auch angesichts der zunehmenden Islamisierung des Rechtslebens in Pakistan unter der neuen Regierung des Premierministers Nawaz Sharif auf der Grundlage der Schariah-Ordinance vom Mai 1991.

An der Gesamteinschätzung, daß auch unter Berücksichtigung dieser Umstände jedenfalls eine Gruppenverfolgung der Ahmadis derzeit nicht vorliege, ändern jedoch auch die jüngsten Vorfälle (noch) nichts. Zwar hat es diskriminierende Maßnahmen pakistanischer Behörden (in Art und Form der Strafverfolgung) sowie Über- und Angriffe seitens orthodoxer Moslems mit Unterstützung durch Tageszeitungen gegeben (vgl. etwa die Veröffentlichungen der "Ahmadiyya-Muslim-Jamaat" Nr. 2 und 3/97 sowie die Ausführungen des Journalisten J.F. Engelmann vom März 1998 unter Bezug aus Artikel in verschiedenen Tageszeitungen), die allesamt dem deutschen Rechtsstandard hinsichtlich der freien Religionsausübung ganz eindeutig nicht genügen, aber diese in das allgemeine Leben in Pakistan einzubettenden Vorfälle zeigen lediglich, daß sich die allgemeine Sicherheitslage der Menschen in Pakistan - nicht nur der Ahmadis, sondern eben auch anderer Gruppen - nicht verändert hat und noch auf demselben Niveau fortbesteht, auf dem diese Lage nun schon seit einiger Zeit verharrt. Es ist insgesamt eher eine ganz allgemeine Tendenz zu einem "religiös motivierten Terrorismus " feststellbar (II 3 des Lageberichts des Ausw. Amtes v. 16.1.1998), der sich jedoch nicht speziell gegen Ahmadis richtet. Eine Intensivierung oder sich markant häufende Steigerung von Über- und Angriffen auf Ahmadis ist durch die jüngsten Ereignisse (noch) nicht festzustellen. Eine höhere "Verfolgungsdichte" (vgl. S. 18 f. des Urteils des OVG Lüneburg v. 25.1.1996) gerade gegenüber Ahmadis ist nicht ersichtlich.

Unterliegen die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft somit z.Zt. grundsätzlich weder einer unmittelbaren noch einer mittelbaren Gruppenverfolgung, so kommt es für das vorliegende Verfahren entscheidend darauf an, ob die Kläger als vorverfolgte oder als bis zur Ausreise politisch noch nicht verfolgte Personen ihr Heimatland verlassen haben.

Die Kläger sind nach ihrem Vortrag - beim Bundesamt wie auch bei der Kammer - als Vorverfolgte aus Pakistan ausgereist. Das Gericht hält ihre Angaben zu den beiden Überfällen auf ihre Arztpraxis aufgrund der Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 5. November 1998 und dem dabei vermittelten Eindruck im Kern für glaubhaft. Die Angaben insbesondere zur Beschimpfung durch die Mullahs und die Verwüstung der Praxis wirkten in vollem Umfange glaubhaft und nachvollziehbar, was zur Folge hat, daß angesichts des gesamten Klimas in Pakistan, das in zunehmendem Maße von orthodoxen Mullahs - vor allem auch Regierungsvertretern - gegen Ahmadis verbreitet wird, auch die Angaben der bereits einmal erfolgten Inhaftierung bei der Poliziei unter Verdrehung der Anschuldigung glaubhaft erscheinen. Die Tatsache, daß der Kläger den letzten Überfall gar nicht mehr bei der Polizei gemeldet hat, spricht nicht gegen den Kläger. Denn dann würde die Ignoranz der pakistanischen Polizei gegenüber den Rechten von Betroffenen verkannt. Angesichts des allgemeinen politischen Klimas der Islamisierung, das von den Regierungsvertretern und sogar dem derzeitigen Regierungschef Nawaz Sharif erzeugt wird (vgl. dazu die Stellungnahme von ai v. 8.9.1997 an VG Wiesbaden), erscheinen die Schilderungen der Kläger auf dem Hintergrund der dargestellten Polizeipraxis insgesamt glaubhaft.

Daß es sich bei den von den Klägern geschilderten Übergriffen der Mullahs um solche handelt, die als staatlich geduldete, ja zum Teil sogar erwünschte, jedenfalls unbeanstandet und tatenlos hingenommene Maßnahmen zu qualifizieren sind, die sich gegen eine religiöse Minderheit - die Ahmadis - richten und die damit als mittelbare Staatsverfolgung im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu werten sind, braucht unter diesen Umständen nicht mehr betont zu werden.

Aufgrund dieses insgesamt glaubhaften Vortrags ist davon auszugehen, daß die Kläger - nach den negativen Erfahrungen - Pakistan aus begründeter Furcht vor einer mittelbaren, nämlich dem pakistanischen zuzurechnenden Verfolgung durch fundamentalistische Mullahs und die Polizei verlassen und im Ausland Schtuz gesucht haben. Daß diese Ausreise unter Mithilfe eines Schleppers mit gefälschten Reisepässen erfolgt ist, erscheint keineswegs unglaubwürdig, stimmt vielmehr mit den Angaben anderer Asylantragsteller völlig überein.