VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 03.06.1998 - 4 E 2878/94.A(2) - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13628
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Medien, Auswertung, Autobahnblockade, Strafverfahren, Nötigung, Strafnachrichtenaustausch, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Krankheit, Gefahrenbegriff, Auslegung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; ATG Art. 8
Auszüge:

Die Klage hat auch insoweit keinen Erfolg, als die Kläger die Feststellung begehren, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Insbesondere droht den Klägern 1. und 2. nicht wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeiten bei ihrer Rückkehr in die Türkei eine Verhaftung oder Folter. Soweit die Kläger in ihrem Schriftsatz vom 12.7.1994 darauf hinweisen, an verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen zu haben, handelt es sich hierbei ganz offensichtlich um lediglich untergeordnete Tätigkeiten, die nicht zu einem gesteigerten Verfolgungsinteresse türkischer Behörden geführt haben dürften.

Ausweislich der Stellungnahme von Frau Dr. Sylvia Tellenbach vom 29.11.1996 an das Verwaltungsgericht Neustadt muß bei der Auswertung von Medien durch die türkischen Auslandsvertretungen differenziert werden. Zunächst gehört die Beobachtung der Medien des Gastlandes in einem gewissen Rahmen zur Aufgabe jeder diplomatischen Vertretung. Daß zum Beispiel eine in dem Programm vorher angekündigte Sendung über die PKK im ZDF verfolgt wird, ist anzunehmen. Daß dagegen jegliche Nachrichtensendung, jede Lokalzeitung systematisch beobachtet wird, wird abgesehen von dem Aufwand, den das kosten würde, auch der Praxis widersprechen, die aus der Türkei bekannt ist. Dort werten Pressestaatsanwälte eine begrenzte Zahl von Zeitschriften aus und zwar diejenigen, die als Sprachrohr bestimmter Gruppierungen gelten. Es kann so vorkommen, daß der gleiche Artikel XY, der in der Zeitung A veröffentlicht zu einem Verfahren führt, bei der Zeitschrift B, die nicht beobachtet wird, unbeanstandet bleibt. Es muß also damit gerechnet werden, daß ein gewisser Teil der Medien ausgewertet wird. Davon ist jedoch die Frage zu trennen, ob z.B. ein einzelner Teilnehmer an einer Demonstration auf Fotos identifiziert werden kann. Wie diskrete Recherchen ergeben haben, wird anhand eines Fotos allein niemand identifiziert. Nur wenn jemand sowieso schon vorher bekannt gewesen ist, kann er gegebenenfalls wiedererkannt werden. Bildauswertungen, selbst wenn man sie als gegeben unterstellt, spielen für die Einleitung von Strafverfahren vor den Staatssicherheitsgerichten keine Rolle, wie sich aus zahlreichen hier bekannten Urteilen ergibt.

Auch hinsichtlich der Teilnahme des Klägers zu 1. an der am 22.3.1994 stattgefundenen Autobahnblockade der Bundesautobahn 7 und der nachfolgenden Verurteilung des Klägers zu 1. durch das Amtsgericht Osterode am Harz vom 13.5.1996 ergibt sich nichts anderes. Daß die türkischen Sicherheitsbehörden von der Teilnahme des Klägers zu 1. an der Autobahnblockade am 22.3.1994 allein aufgrund von Presseberichten erfahren haben könnten, wird selbst von dem Kläger zu 1. nicht behauptet.

Aufgrund der Mitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 8.8.1997 an das Verwaltungsgericht Gießen über die Fragen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen mit der Türkei muß davon ausgegangen werden, daß die türkischen Sicherheitskräfte über die Verurteilung des Klägers zu 1. in Kenntnis gesetzt worden sind. Hierbei handelt es sich um einen reinen Strafnachrichtenaustausch, der neben den persönlichen Daten des Betroffenen, das Datum der Verurteilung und der letzten Straftat, die Bezeichnung des erkennenden Gerichtes sowie das Aktenzeichen des Verfahrens, die zur Verurteilung gelangte Straftat nebst den entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches und sonstiger strafrechtlicher Nebenfolgen oder Nebenstrafen enthält. Aufgrund einer Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Nötigung und Verstoß gegen die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung ist jedoch für die türkischen Sicherheitskräfte nicht zu ersehen, daß die zugrundeliegende Tat einen versammlungsspezifischen und hier türkeispezifischen Bezug hatte. Vielmehr kann eine derartige Verurteilung auch anläßlich einer einfachen Verkehrskontrolle oder ähnlicher Maßnahmen erfolgen, ohne daß die zugrundeliegende Tat in irgendeinem Zusammenhang mit politischen Aktionen des Betroffenen steht.

In der Person des Klägers zu 4. liegt jedoch aufgrund seiner Erkrankung und der damit verbundenen lebensnotwendigen Behandlung das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 6 AuslG vor.

Der Wortlaut des § 53 Abs. 6 AuslG gebietet es nach Auffassung der Richterin zunächst nicht, Gefahren, die ihre Ursache in der Konstitution des Ausländers haben, von dem Anwendungsbereich des § 53 Abs. 6 AuslG auszunehmen. Denn auch im Fall von Erkrankungen, für die in seinem Heimatland keine Behandlungsmöglichkeiten bestehen, die jedoch in der Bundesrepublik Deutschland behandlungsfähig sind, realisiert sich die konkrete erhebliche Gefahr für Leib und Leben "dort", also im Heimatland des Ausländers. Daß die Gefahren des § 53 Abs. 6 AuslG ausschließlich von dem Heimatstaat auszugehen haben und keinerlei Bezug zu der Konstitution des jeweiligen Ausländers haben dürfen, läßt sich nach Auffassung der Richterin dem Wortlaut des § 53 Abs. 6 AuslG nicht entnehmen.

Aufgrund der Tatsache, daß der Kläger zu 1. nach Auskunft seiner Bevollmächtigen vom 16.1.1998 in der Türkei weder sozial- noch krankenversichert war, geht das Gericht mit der Gutachterin Frau Pia Angela Göktürk vom Oktober 1997 davon aus, daß der Kläger zu 4. bzw. seine Eltern, die Kläger zu 1. und 2., die notwendige medizinische Behandlung des Klägers zu 4. in der Türkei nicht bezahlen können, da sie für die notwendigen medizinischen Maßnahmen selbst aufkommen müßten und das Gericht auch nach der Befragung in der mündlichen Verhandlung am 3.6.1998 davon ausgeht, daß die Kläger hierzu nicht in der Lage sind.