SG Aachen

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Zitieren als:
SG Aachen, Urteil vom 16.04.1998 - S 15 Kg 43/95 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13520
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Türken, Erziehungsgeld, Aufenthaltstitel, Konventionsflüchtlinge, Gemeinschaftsrecht, Arbeitnehmer, Freizügigkeit, Gleichheitsgrundsatz
Normen: BErzGG a.F. § 1 Abs. 1; BErzGG § 1 Abs. 1a
Auszüge:

Obwohl die Klägerin während des hier möglichen Anspruchszeitraumes vom 2.6.1993 bis 15.12.1996 noch keine Aufenthaltserlaubnis und erst ab 23.5.1995 eine Aufenthaltsbefugnis besaß, ist ihr Anspruch nach Maßgabe der EWG-Verordnung 1408/71 begründet.

Zwar sind weder die türkische Klägerin noch ihr türkischer Ehemann Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates; sie unterfallen jedoch als Flüchtlinge, die im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wohnen, ebenfalls dem persönlichen Geltungsbereich der EWG-VO 1408/71.

Unzweifelhaft sind sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann durch das seit 18.3.1995 rechtskräftige Urteil des VG Aachen unanfechtbar als Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt worden. Nach Auffassung der Kammer kommt dieser Anerkennung jedoch lediglich deklaratorische und keine konstitutive Bedeutung zu, so daß sich der Anspruch der Klägerin auf die Gewährung von Erziehungsgeld nicht auf die Zeit ab 18.3.1995 beschränkt. Der Flüchtlingsbegriff nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist weiter gefaßt als das in Artikel 16a Abs. 1 GG enthaltene Grundrecht auf Asyl, so daß zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft eine grundsätzliche Verweisung auf das Asylverfahrensgesetz ausscheidet. Zwar genießen Asylberechtigte nach § 2 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes im Bundesgebiet die Rechtsstellung nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951. Dies gilt jedoch nach herrschender Meinung in der Literatur erst ab dem Zeitpunkt der unanfechtbaren Anerkennung als Asylberechtigter, da das Asylrecht unter einem Verfahrensvorbehalt gestellt sei und dem Anerkennungsbescheid - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - auch eine konstitutive Wirkung zukomme. Der Erwerb des Flüchtlingsstatus bedarf im Gegensatz zur Asylberechtigung keiner förmlichen Feststellung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens und untersteht damit auch keinem Verfahrensvorbehalt. Der Erwerb des Flüchtlingsstatus tritt vielmehr in dem Zeitpunkt ein, in dem der Verzicht auf die Rückkehr in den Heimatort eindeutig manifestiert wird, z.B. durch die Stellung eines Antrages auf Anerkennung als politischer Flüchtling. Die Klägerin und ihr Ehemann haben sich daher bereits seit Stellung des Asylantrages nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten und fallen daher gem. Art. 2 EWG-Verordnung 1408/71 unter den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung.

Nach Artikel 3 Abs. 1 der EWG-Verordnung 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnen und für die die Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen der Verordnung nichts anderes vorsehen. Dies bedeutet auch, daß anerkannte Flüchtlinge, die zugleich Arbeitnehmer sind und die in einem Mitgliedsstaat wohnen, ohne weiteres dieselben Rechte haben wie ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedsstaates, ohne daß sie zuvor von der Freizügigkeit als Wanderarbeitnehmer in der Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben müssen. So ist auch § 42 BKGG in der bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung zu verstehen, nämlich als Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in innerstaatliches Recht.

Das Gebot der Gleichbehandlung setzt für Flüchtlinge nur voraus, daß sie im Gebiet des Mitgliedsstaates wohnen. Eine andere Auslegung widerspräche dem im Gemeinschaftsrecht zum Ausdruck gebrachten Willen, anerkannte Flüchtlinge und Staatenlose dem sozialen Schutz des Mitgliedstaates zu unterstellen, in dem sie wohnen. Eine Fallgestaltung vorauszusetzen, nach der ein nach Deutschland eingereister Flüchtling zunächst als Wanderarbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit finden müßte, damit seine in Deutschland verbliebene Ehefrau Erziehungsgeld beanspruchen kann, würde der Zielsetzung der Artikel 2, 3 und 4 der EWG-Verordnung 1408/71 widersprechen.