VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 22.04.1998 - 8 K 4762/94.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13494
Leitsatz:
Schlagwörter: Estland, Russen, Ukrainer, Staatenlose, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Diskriminierung, Polizei, Minderheiten, Gruppenverfolgung, Militärangehörige, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 50 Abs. 2
Auszüge:

Die dem Kläger bis zum 16. März 1993 widerfahrene Behandlung durch estnische Behörden und durch seine Dienstvorgesetzten erreicht nicht die Schwelle der Asylerheblichkeit. Auch bei vollständiger Zugrundelegung der in den gerichtlichen Anhörungsterminen gemachten Angaben des Klägers ist nicht erkennbar, daß die ihm widerfahrenen Erschwernisse bei seinem Bemühen, seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren, an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfen. Die ihm nur befristet erteilte Aufenthaltsgenehmigung weist lediglich darauf hin, daß er als Nichteste behandelt wurde und er den gesetzlichen Restriktionen - wie sie für alle Nichtesten galten und gelten - unterworfen worden ist. Eine ausgrenzende Behandlung des Klägers liegt hierin nicht. Dabei verkennt das Gericht nicht, daß insbesondere ehemalige Angehörige der Sowjetarmee, gleich welcher Nationalität, nach der Unabhängigkeit Estlands mit der von der estnischen Bevölkerung gehaßten, weil als Besatzungsmacht erachteten, Sowjetarmee identifiziert wurden. Die von ihnen erstrebte Integration wurde erschwert. Die Schwelle der Asylerheblichkeit ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen indes nicht erreicht.

Auch die vom Kläger geltend gemachten Bedrohungen und Verdächtigungen sind nicht als politische Verfolgung zu qualifizieren, weil ihnen eine hinreichende Intensität mangelt. Das gilt auch für die Forderung des Dienstherrn des Klägers, seinen Polizeidienst - im Bereich der Schwerkriminalität - ohne eine Dienstwaffe zu versehen; denn eine auf das Leben des Klägers zielende staatliche Verfolgungshandlung liegt hierin nicht. Daß der Kläger bei weiterer Dienstverrichtung ohne Dienstwaffe einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt gewesen wäre, ist zwar nicht auszuschließen, kann aber andererseits nicht nach dem für das Vorliegen von Vorfluchtgründen maßgeblichen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bejaht werden.

Lassen sich bezogen auf den Ausreisezeitpunkt des Klägers keine Anhaltspunkte für eine unmittelbare oder mittelbar dem Staat zurechenbare Verfolgung finden, so gibt die weitere politische Entwicklung in Estland bis zu dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (22. April 1998) nichts dafür her, daß derzeit eine politische Verfolgung von Nichtesten stattfindet.

Die verschiedenen ethnischen Gruppen leben heute in Estland friedlich miteinander; die große Mehrheit russischer Volkszugehöriger hat sich für einen Verbleib in Estland entschieden. Bei legalem Aufenthalt sind die verfassungsgemäßen Rechte garantiert.

Die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung ist allerdings rechswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Der Kläger ist nach dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen staatenlos. Die Staatsangehörigkeit der übrigen Kläger ist ungeklärt. Die Kläger haben weder das Recht auf Wiederkehr nach Estland noch einen Anspruch auf eine erleichterte Einbürgerung erworben. Der estnische Staat wird sie im Abschiebungsfall nicht übernehmen. Selbst wenn die Kläger bei ihrer Ausreise ursprünglich ein Recht auf Rückkehr besessen haben sollten, so gilt dieses jedenfalls seit dem 12.7.1996 als verwirkt, wenn - wie hier - bis zu dem o.a. Stichtag keine Aufenthaltserlaubnis beantragt worden ist. Betroffen von dieser Regelung sind vor allem - wie auch hier - solche Personen, die sich mit ehemaligem sowjetischem Reisepaß ununterbrochen im Ausland aufgehalten haben und deren Pässe zwischenzeitlich ungültig geworden sind.

Hieraus folgt, daß den grundsätzlich nach § 42 Abs. 1 AuslG ausreisepflichtigen Klägern, die auch nicht im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung sind, nicht die Abschiebung nach Estland angedroht werden darf. Da Estland als Primärzielstaat einer Abschiebung ausscheidet, erweist sich die gesamte Abschiebungsandrohung als rechtswidrig, weil es an einem nach § 50 Abs. 2 AuslG grundsätzlich zu benennenden Zielstaat fehlt.