OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.04.1998 - 1 A 1399/97.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13476
Leitsatz:
Schlagwörter: China, Abschiebungsschutz, Situation bei Rückkehr, Ein-Kind-Politik, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Strafverfolgung, Gesetzesänderung, Exilpolitische Betätigung, ADC, Mitglieder, Abschiebungshindernis, Zwangssterilisation, menschenrechtswidrige Behandlung, Berufung
Normen: ChinStGB Art. 176; AuslG § 51; AuslG § 53 Abs. 4
Auszüge:

Unter dem Gesichtspunkt von § 51 Abs. 1 AuslG bedarf es einer Bewertung der exilpolitischen Aktivitäten der Klägerin. Diese Aktivitäten rechtfertigen nach Auffassung des Senats eine Anwendung von § 51 Abs. 1 AuslG nicht. Die zu einem anderen Ergebnis kommende erstinstanzliche Entscheidung beruht auf Erwägungen, die der damaligen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Köln entsprechen. Mit ihnen hat der Senat sich in seinem Urteil vom 26. Juni 1997 - 1 A 1402/97.A - eingehend befaßt. Ausgangspunkt für diese Erwägungen ist die Vorschrift des Art. 176 des chinesischen Strafgesetzbuches vom 1. Januar 1980 über die Bestrafung der illegalen Ausreise, deren Anwendung pauschal als politische Verfolgung bewertet wird. Dieser Ansatz hat sich zwischenzeitlich dadurch erledigt, daß gemäß dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Dezember 1997 am 1. Oktober 1997 in der Volksrepublik China ein neues Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist und hinsichtlich einer darin etwa vorgesehenen Bestrafung der illegalen Ausreise erneut geprüft werden müßte, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß damit Elemente einer politischen Verfolgung verbunden sind. Angesichts dessen, daß in dem Lagebericht von einer Stärkung des Rechtssystems und von einem Rückgang der Einschränkungen des privaten Freiheitsbereichs die Rede ist, erscheint dies als nicht gerade naheliegend. Im übrigen hat der Senat sich, ausgehend von einem Beschluß vom 19. März 1997 - 1 A 1142/97.A - auf den Standpunkt gestellt, daß sich die Frage, ob die Anwendung der damaligen Bestimmungen über die Strafbarkeit der illegalen Ausreise politische Verfolgung darstellt, nicht allgemein bejahen oder verneinen läßt.

An der sich aus diesen Erwägungen erhebenden Annahme, daß die Vorschriften über die Bestrafung der illegalen Ausreise als Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsprognose ungeeignet sind, wird auch für das vorliegende Verfahren festgehalten.

Für die Klägerin gilt im übrigen, daß es sich bei ihr nach dem sich aus ihrem eigenen Vorbringen ergebenden Eindruck um eine typische Mitläuferin handelt, deren handeln zudem erkennbar asyltaktisch motiviert ist. Ein eigenständiges politisches Engagement tritt nicht erkennbar in Erscheinung, und auch der Vortrag der Klägerin über die Gründe, aus denen sie die Volksrepublik China verlassen haben will, gibt dazu nichts her. Ein Anlaß zur Annahme, die Klägerin werde nach einer Rückkehr in die Volksrepublik China sich auch dort in oppositionellem Sinn politisch betätigen, besteht nicht.

Dies gilt nicht nur für eine Beurteilung aus hiesiger Sicht, sondern auch aus der mutmaßlichen Sicht der Stellen, die nach einer Rückkehr der Klägerin in die Volksrepublik China über etwaige Maßnahmen gegen die Klägerin zu entscheiden haben, die als politische Verfolgung iSv § 51 Abs. 1 AuslG würden gewertet werden können.

Für die Prognose, ob ihr dieserhalb in der Volksrepublik China politische Verfolgung iSv § 51 AuslG droht, ergibt sich daraus, daß sich die Gefahr einer solchen Verfolgung zwar nicht ausschließen läßt, daß es für die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung aber an einer tragfähigen Grundlage fehlt. Das verbleibende Risiko einer politischen Verfolgung hat die Klägerin selbst zu tragen.

Die Klägerin darf iSv § 53 Abs. 4 AuslG nicht in die Volksrepublik China abgeschoben werden, da sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, daß die Abschiebung unzulässig ist.

Einschlägig ist im vorliegenden Fall Art. 3 EMRK.

Der Senat schließt sich der im Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht (Rdn. 205 zu § 53 AuslG) vertretenen Auffassung an, daß es sich bei der einer Chinesin nach Rückkehr in die Volksrepublik China wegen vorangegangener Geburnten drohenden Zwangssterilisation um eine erniedrigende, wenn nicht unmenschliche Behandlung iSv Art. 3 EMRK handelt.

Hinsichtlich der Klägerin liegen ernsthafte Gründe für die Annahme vor, daß ihr nach einer Abschiebung in die VR China die Gefahr droht, gegen ihren Willen sterilisiert zu werden. Die Klägerin hat sich, indem sie nach einer ungenehmigten Ausreise ohne entsprechende Erlaubnis und ohne verheiratet zu sein, im Ausland Kinder zur Welt gebracht hat, massiv über die Vorgaben der staatlichen Familienplanungspolitik der VR China hinweggesetzt.

Für die Regionalbehörden, in deren Zuständigkeitsbereich die Klägerin nach einer Rückkehr in die VR China gerät, muß die zweimalige Geburt eines Kindes außerhalb einer Ehe ohne Rücksicht auf den Auslandsaufenthalt die Annahme nahelegen, daß die nunmehr 29 Jahre alte und damit weiterhin gebärfähige Klägerin sich auch künftig nicht an die Vorgaben der staatlicehn Familienplanungspolitik halten werde. Hiernach kommt die Klägerin von vornherein bevorzugt als Opfer einer Zwangssterilisation in Betracht, weiles sich bei dieser Maßnahme um ein geeignetes und deswegen naheliegendes Zwangsmittel zur Unterbindung weiterer Geburten handelt und die Klägerin erklärtermaßen nicht bereit ist, sich freiwillig sterilisieren zu lassen.

Daß in der VR China Zwangssterilisationen nicht nur vereinzelt vorkommen, sondern verbreitet als Mittel zur Durchsetzung der Familienplanungspolitik eingesetzt werden, ist vielfach belegt.

Hiernach gibt es sowohl in der Person der Klägerin als auch in der allgemeinen Situation des Herkunftsstaates ernsthafte ("stichhaltige") Gründe für die Annahme, die Klägerin werde bei einer Rückkehr in die Volksrepublik China auch ohne ihre Einwilligung sterilisiert werden; es liegt im Sinne der neueren Rechtsprechung des EGMR das "reale Risiko" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden erniedrigenden Behandlung vor. Dieses Risiko besteht landesweit, und es entspricht auch dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, weil bei der zusammenfassenden Bewertung des vorliegenden Lebenssachverhaltes die für eine erniedrigende Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Für die Klägerin erscheint eine Rückkehr in die Volksrepublik China als ebenso unzumutbar, wie dies nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 1991 (BVerwGE 89, 162/169) in Anlegung des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bei christlichen Wehrpflichtigen aus der Türkei wegen der ihnen dort drohenden Gefahr einer Zwangsbeschneidung der Fall gewesen ist.