VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 23.02.1998 - VG 35 A 217.97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13456
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Bosnier, Kroaten, Citluk, Moslemisch-kroatische Föderation, Familienangehörige, Kinder, Krankheit, Mukoviszidose, Abschiebungsandrohung, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Schutz von Ehe und Familie, Ausreisefrist, Aufenthaltsbefugnis, Humanitäre Gründe, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AsylVfG § 34 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 30 Abs. 4; AuslG § 30 Abs. 3
Auszüge:

Die Klage hat hinsichtlich beider Begehren Erfolg, denn die von den Klägern angefochtenen Abschiebungsandrohungen sind rechtswidrig und deshalb aufzuheben (I); ebenso haben die Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis (II).

I. Die gegen die Abschiebungsandrohung des Beklagten gerichtete Anfechtungsklage ist zulässig und begründet, denn die unter dem 23. Oktober 1996 erlassenen Bescheide sind wegen Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften und bestehender Abschiebungshindernisse rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Nachdem der Beklagte von der Schwere der Erkrankung des Klägers zu 3) sechs Monate vor Erlaß der angefochtenen Bescheide Kenntnis erlangt hatte, konnte auf eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG nicht mehr rechtsfehlerfrei verzichtet werden. Der Anhörungsmangel ist auch durch das Widerspruchsverfahren nicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt worden.

Die Abschiebungsandrohungen des Beklagten vom 23. Oktober 1996 sind auch wegen des Vorliegens eines zwingenden Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK aufzuheben. Nach den vorliegenden Erkenntnissen kann der Kläger zu 3) bei einer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina nicht in der erforderlichen Weise medizinisch und nahrungsmäßig versorgt werden, so daß mit seinem Tod in absehbarer Zeit zu rechnen ist.

Eine Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohungen folgt außerdem aus der fehlerhaften Bestimmung der Ausreisefrist mit nur einer Woche.

II. Die Klage hat auch hinsichtlich des Begehrens der Kläger auf Aufenthaltsbefugnis Erfolg.

Der Anspruch der Kläger ergibt sich bereits aus § 30 Abs. 3 AuslG. Hiernach kann einem Ausländer, der unanfechtbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 für eine Duldung vorliegen, weil seiner freiwilligen Ausreise und seiner Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die er nicht zu vertreten hat.

Die Voraussetzungen nach dieser Vorschrift sind erfüllt, denn die Kläger sind aufgrund der Bescheide des Beklagten vom 28. April 1994 (Kläger zu 1) bis 3)) bzw. 29. November 1996 (Kläger zu 4)) unanfechtbar ausreisepflichtig und es stehen ihrer freiwilligen Ausreise und ihrer Abschiebung durch die Erkrankung des Klägers zu 3) Hindernisse entgegen, die sie nicht zu vertreten haben.

Den Klägern zu 1) bis 3) steht außerdem ein Anspruch auf Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG zu, weil sie seit mindestens zwei Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig sind, eine Duldung besitzen und weil sie sich nicht weigern, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen.

Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis sowohl nach § 30 Abs. 3 bzw. Abs. 4 AuslG vor, steht der Behörde ein Ermessen darüber zu, ob sie eine solche Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Eine Klage auf Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis ist daher nur dann begründet, wenn die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis als einzige rechtmäßige Entscheidung in Betracht kommt - Reduzierung des Ermessens auf Null -. Das ist hier der Fall.

Soweit in den Bescheiden vom 17. Juli 1997 eine Ermessenbetätigung überhaupt erkennbar wird, ist sie rechtsfehlerhaft weil sie zum einen von einem falschen Sachverhalt - der Behandelbarkeit von Mukoviszidose in Bosnien-Herzegowina - ausgeht und nicht die gesetzgeberischen Motive für die Schaffung der Aufenthaltsbefugnis als neue Form einer Aufenthaltsgenehmigung berücksichtigt.

Nach der Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte kann bei einem längeren Aufenthalt, dessen Ende - wie hier - nicht erkennbar ist, der Aufenthalt allein durch die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis legitimiert, nicht aber mittels Duldung gewährt werden.

Unter Berücksichtigung des festgestellten Sachverhalts hinsichtlich der ungewissen weiteren Aufenthaltsdauer der Kläger und der Motive des Gesetzgebers bei der Schaffung des Instituts der Aufenthaltsbefugnis kommt nur allein die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis als alleinige ermessenfehlerfreie Entscheidung in Betracht, wie es auch in der Vergangenheit in der Praxis des Beklagten entsprach.

Die von der Kammer in dem rechtskräftigen Urteil vom 3. November 1997 - VG 35 A 2043.97 - dargestellte Praxis des Beklagten, die praktisch darauf hinausläuft, bosnischen Flüchtlingen überhaupt keine Aufenthaltsbefugnisse mehr zu erteilen - nach der Weisung erhalten nur die Zeugen für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, nicht aber ihre Angehörigen eine solche Aufenthaltsgenehmigung - ist mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren, denn sie führt dazu, daß die § 30 und 31 des Ausländergesetzes im Land Berlin praktisch suspendiert sind. Die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für die Kläger stellt auch nach der im Verfahren erkennbar gewordenen Auffassung des Beklagten kein "falsches politisches Signal" in dem Sinne dar, daß hierdurch die Rückkehrbereitschaft der bosnischen Flüchtlinge beeinträchtigt wird. Bei einer Gruppe von 340000 Personen - soviel bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge hielten sich Ende 1995 in der Bundesrepublik auf - ist es völlig klar, daß ein bestimmter Teil von ihnen aus persönlichen Gründen (Krankheit, Alter, Traumatisierung) nicht in sein Herkunftsland zurückkehren kann.