Übersicht zu aktuellen Berichten über die Lage in Afghanistan

Am 22.10.2021 hat das Auswärtige Amt einen neuen Bericht zur Lage in Afghanistan herausgegeben, über den vielfach berichtet wurde und der auch unserer Redaktion vorliegt. Darüber hinaus sind am 11. November 2021 Afghanistan-Leitlinien des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) erschienen. Der folgende Artikel fasst die wichtigsten Aussagen dieser Berichte zusammen und verweist auf weitere relevante Quellen, die sich mit der Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban auseinandersetzen.

Hinweis: Die Meldung erschien zunächst am 9.11.2021 und wurde am 11.11.2021 nach Erscheinen des Berichts "EASO Country Guidance Afghanistan" aktualisiert.

Nachdem US-Präsident Joe Biden am 14. April 2021 den 11. September 2021 als Datum für den Truppenabzug der USA wie auch der NATO-Verbündeten verkündet hatte, verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan aufgrund zunehmender bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Taliban und Regierungstruppen kontinuierlich und schnell. Den Taliban gelang es, sukzessive ihre Kontrolle zuerst im ländlichen Raum, ab Anfang August dann auch in den Provinzhauptstädten auszudehnen. Am 15. August 2021 nahmen die Taliban Kabul ein. Am 7. September 2021 gaben die Taliban eine aus 33 Mitgliedern bestehende geschäftsführende Übergangsregierung bekannt.

Mit diesen Ereignissen haben sich die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan grundlegend verändert und geben Anlass, einen Blick auf die veränderte Lage und bisher zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zu werfen.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes und weitere aktuelle Quellen

Der letzte reguläre Asyllagebericht zu Afghanistan war im Juli 2021 erschienen und ist bereits in vielen Teilen überholt. Inzwischen liegt ein neuer "Bericht über die Lage in Afghanistan (Stand: 21.10.2021) des Auswärtigen Amtes vor, der sich mit der aktuellen Situation befasst. Das Auswärtige Amt weist hier zunächst selbst darauf hin, dass es aufgrund der Schließung der deutschen Botschaft Kabul seit dem 15. August 2021 keine eigenen Erkenntnisse zur Lage im Land hat. Der aktualisierte Lagebericht beruhe daher vorrangig auf Erkenntnissen, die das Auswärtige Amt „im Rahmen seiner Kontaktarbeit mit in Afghanistan tätigen internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und weiteren mit Afghanistan befassten Ansprechpartnern“ gewonnen habe. Für den aktuellen Bericht seien insbesondere die folgenden Quellen ausgewertet worden: „[…] Auskünfte, Berichte und Analysen des UNHCR, der UNAMA, des IKRK, der IOM, AIHRC, internationaler und afghanischer NROs, Analysen des Afghanistan Analysts Network (AAN), Auskünfte des UN-OCHA, regelmäßige Lageberichte des VN-Generalsekretärs zu Afghanistan. Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch, sowie Presseberichterstattung.“

Abgesehen von diesen allgemeinen Hinweisen verzichtet das Auswärtige Amt – wie stets in seinen Lageberichten – auf Fußnoten oder sonstige detaillierte Quellenangaben. Es ist somit praktisch unmöglich, einzelne Aussagen des Berichts mit den Quellen abzugleichen bzw. festzustellen, ob die Quellen in den jeweiligen Passagen überhaupt herangezogen wurden und ob sie korrekt zitiert werden. Aus diesem Grund erscheint es für die Beratungs- und Entscheidungspraxis besonders wichtig, auch weitere Quellen zu konsultieren. Die nachfolgenden Ausführungen des Auswärtigen Amtes haben wir zu diesem Zweck um Hinweise auf einige der wichtigsten neu erschienenen Berichte ergänzt. Hinweise auf weitere Quellen können Sie bei www.ecoi.net sowie zum Teil auch in den Literaturangaben der unten angegebenen Berichte finden (so etwa in den unten angegebenen "Country Policy and Information Notes" des UK Home Office, im Themendossier von ACCORD sowie im "Afghanistan: COI repository" von ARC, asylos und Clifford Chance).

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat darüber hinaus in Schriftsätzen, die der Redaktion vorliegen, angekündigt, dass es für seine Afghanistan-Entscheidungen künftig die Leitlinien des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) heranziehen wird. Diese Leitlinien sind am 11. November 2021 erschienen. Sie stellen nach eigener Aussage die gemeinsame Lageeinschätzung im Herkunftsland durch leitende Behördenvertreter*innen dar, die den Bericht im Einklang mit EU-Gesetzgebung sowie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verfasst haben. Der Aufbau orientiert sich am Prüfungsschema der Flüchtlingsdefinition sowie des subsidiären Schutzstatus. Entsprechend werden zunächst staatliche und nicht-staatliche Akteure behandelt, die potenziell Verfolgung ausüben oder "ernsthaften Schaden" verursachen können. Anschließend geht der Bericht auf Personen(gruppen) ein, die für den Flüchtlingsstatus bzw. für den subsidiären Schutzstatus infrage kommen könnten. Die weiteren Abschnitte behandeln Akteure, die potenziell Schutz bieten können, die Frage der internen Schutzalternative sowie mögliche Ausschlussgründe.

a. Gesamtbild der Situation in Afghanistan

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes weist wiederholt darauf hin, dass es zahlreiche Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen gibt, wobei aber zugleich betont wird, dass die ausgewerteten Informationen schwer verifizierbar seien – insbesondere hinsichtlich der individuellen Gefährdung von Zivilpersonen. Demnach existieren laut dem Lagebericht Berichte über Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen. An anderer Stelle wird auf eine „Vielzahl, unter den gegenwärtigen Bedingungen schwer zu verifizierenden, Meldungen […] über Vergeltungsmaßnahmen, Repressionen und Verfolgung“ hingewiesen (Lagebericht, S. 4). Keine „fundierten Erkenntnisse“ gebe es aber über „zielgerichtete, großangelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen“ (Lagebericht, S. 6).

Andererseits wird auf – nicht näher bezeichnete - Berichte des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen eingegangen, in denen durchaus zielgerichtete Übergriffe beschrieben werden:

„So hat das Hochkommissariat glaubhafte Berichte über Morde an früheren Militärangehörigen sowie zu willkürlichen Verhaftungen von ehemaligen Regierungsmitarbeitendenden und deren Familienangehörigen erhalten. Darüber hinaus liegen dem Hochkommissariat zahlreiche Berichte zu Hausdurchsuchungen vor, unter anderem in Kabul, Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif, Gardez, Maimana und Samangan. Diese sollen Regierungsmitarbeitende betreffen, aber auch Personen, die mit den US-Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsfirmen zusammengearbeitet haben, sowie auch VN-Mitarbeitende. Auch die Büros von Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen sollen betroffen sein.“ (Lagebericht, S. 8)

Zur allgemeinen Lage und zur Sicherheitssituation sind über den Lagebericht hinaus die folgenden aktuellen Berichte erschienen:

b. Besonders gefährdete Personengruppen

Auch in weiteren Abschnitten, in denen es um besonders gefährdete Personenkreise geht, werden vom Auswärtigen Amt Berichte über zielgerichtete Menschenrechtsverletzungen erwähnt, so etwa im Abschnitt über Meinungs- und Pressefreiheit. Hier lägen „eine Reihe von nur teilweise verifizierbaren Berichten über die Festnahme und Misshandlung von Journalisten“ vor. Auch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit seien seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt worden.

Die Situation von Frauen und Mädchen hat sich laut dem Bericht des Auswärtigen Amtes verschlechtert. Es zeichneten sich für diese Personengruppen deutliche Beschränkungen „bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten“ ab. Informationen über intensivierte Repressionen beträfen etwa Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschräkung von Schulbesuch und Berufsausbildung bis hin zu Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern.

Auch hinsichtlich der Situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI) geht der Bericht von einer weiteren Verschlechterung der Lage der Betroffenen aus: So sei es schon vor der Machtübernahme der Taliban möglich gewesen, dass mehrjährige Haftstrafen wegen Homosexualität verhängt werden konnten. Die Taliban hätten darüber hinaus in den von ihnen kontrollierten Gebieten schon früher ein informelles Justizsystem etabliert, in dem LGBTI-Personen von Strafen bis hin zur Auspeitschung oder Steinigung bedroht gewesen seien. Es sei davon auszugehen, dass diese Praxis fortgeführt werde.

Laut dem Lagebericht gibt es bisher auch keine formelle, organisierte politische Opposition. Ehemalige politische Akteur*innen, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befänden sich gegenwärtig im Ausland. Jedoch sei „mit politischem Dissens u. a. mit Blick auf die bisher wenig inklusive Regierungsführung der Taliban, die schwierige wirtschaftliche Lage und die Benachteiligung von Frauen und Mädchen mittelfristig zu rechnen, die Reaktion der Taliban darauf bleibe abzuwarten.“ (S. 8 und 9)

Detailliertere Ausführungen zu potenziell gefährdeten Gruppen finden sich darüber hinaus in einem aktuellen Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO): Dessen am 11. November 2021 veröffentlichten Leitlinien (EASO; Country Guidance Afghanistan, November 2020) enthalten ein Kapitel, in dem die Situation verschiedener Personengruppen untersucht wird. Anschließend wird für die jeweiligen Gruppen eine kurze Gefährdungsanalyse vorgenommen und erörtert, ob daraus ein Schutzanspruch abgeleitet werden kann (Abschnitt "Analysis of particular profiles with regard to qualification for refugee status"). Laut einer Mitteilung von EASO vom 11. November 2021 kommen die Leitlinien unter anderem zu dem Schluss, dass folgende Personengruppen eine "begründete Furcht vor Verfolgung" im Sinne der Flüchtlingsdefinition geltend machen können:

  • Personen, die bei der früheren afghanischen Regierung zentrale Positionen bei den Sicherheitskräften und im Justizwesen innehatten;
  • Personen, die für ausländische Regierungsinstitutionen gearbeitet haben oder von denen angenommen wird, dass sie diese unterstützt haben;
  • religiöse Führungspersönlichkeiten, von denen angenommen wird, dass sie die Ideologie der Taliban infrage stellen;
  • Journalist*innen, Medienschaffende und Menschenrechtsaktivist*innen, die von den Taliban als kritisch gegenüber ihrer Ideologie angesehen werden oder von denen angenommen wird, dass sie sich nicht an von den Taliban aufgestellte Regeln halten.

Darüber hinaus wird in dem Bericht festgestellt, dass die Machtübernahme der Taliban erhebliche negative Auswirkungen auf die Situation von Frauen und Mädchen im Land hat.

Auf die Gefährdungssituation bestimmter Gruppen gehen darüber hinaus die folgenden Berichte ein:

c. "Ausweichmöglichkeiten"/inländische Schutzalternative

Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird einerseits festgestellt, dass sich Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban befindet. Andererseits könne gegenwärtig aber nicht bewertet werden, inwieweit die Taliban auch landesweit über "umfassende Kontroll- und Durchgriffsmöglichkeiten" verfügten.

Die EASO-Leitlinien enthalten demgegenüber im Abschnitt "Internal protection alternative" die eindeutige Aussage, dass für Personen, die der Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens unterliegen, derzeit im Allgemeinen keine Schutzalternative innerhalb Afghanistans existiert. Begründet wird dies damit, dass keine "Akteure, die Schutz bieten können" (im Sinne von Art. 7 der Qualifikationsrichtlinie) vorhanden sind. Lediglich in Ausnahmefällen könne von einer internen Schutzalternative ausgegangen werden, wobei die Unsicherheiten in der Einschätzung der aktuellen Lage aber bei der Bewertung zu berücksichtigen seien. So lägen insbesondere keine Informationen darüber vor, wie die Taliban Personen behandelt haben, die Afghanistan verlassen und im Ausland Asyl beantragt haben. Auch die Gefahr willkürlicher Gewalt könne derzeit nicht verlässlich eingeschätzt werden (EASO country guidance, S. 36).

d. Humanitäre Lage

In vielen aufenthalts- und asylrechtlichen Verfahren afghanischer Schutzsuchender hat in den letzten Jahren die Bewertung der Existenzmöglichkeiten bei Rückkehr eine zentrale Rolle gespielt. Dabei kam die Rechtsprechung zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Frage, ob Rückkehrende in der Lage sein würden, ihren Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Eine von Gerichten nicht selten vertretene Auffassung lautete, dass alleinstehende arbeitsfähige Männer auch unabhängig von familiärer Unterstützung oder von anderen sozialen Netzwerken grundsätzlich in der Lage seien, in Afghanistan zumindst am Rande des Existenzminimums zu überleben. Der Bericht des Auswärtigen Amtes beurteilt die aktuelle Situation in dieser Hinsicht nun allerdings deutlich kritischer. Demnach habe sich die wirtschaftliche Lage seit der Machtübernahme der Taliban weiter verschlechtert und stehe „vor dem vollständigen Kollaps.“ Rückkehrende verfügten „nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.“ (Lagebericht S. 14).

Sollte diese Bewertung von der Rechtsprechung aufgegriffen werden, könnte die Möglichkeit einer Rückkehr derzeit also nur noch in seltenen Ausnahmefällen angenommen werden. In einer Vielzahl von Fällen wäre die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach §60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG die Folge.

Die humanitäre Situation sowie die Lage des Gesundheitssystems werden in zahlreichen Berichten thematisiert, darunter die folgenden:

Die EASO-Leitlinien gehen auf die humanitäre Situation lediglich am Rande ein, da der Fokus der Leitlinien auf der Prüfung des internationalen Schutzes (also Flüchtlings- und subsidiärer Schutz im Sinne der EU-Qualifikationsrichtlinie) liegt.


Hinweis

Aufgrund vielfältiger Gesetzesänderungen können einzelne Arbeitshilfen in Teilen nicht mehr aktuell sein. Wir bemühen uns, so schnell wie möglich eine aktualisierte Version zu verlinken. Bis dahin bitten wir Sie, auf das Datum der Publikation zu achten und zu überprüfen, ob die Informationen noch korrekt sind.

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