Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht zur Frage, ob die Regelsätze des Asylbewerberleistungsgesetzes verfassungsgemäß sind

Stellungnahme der BAGFW als sachverständiger Dritter gem. § 27a BVerfG im Verfahren 1 BvL 5/21 (7. Oktober 2022)

Download Stellungnahme BAGFW zum AsylbLG (Oktober 2022)

Stellungnahme zu der Frage, ob § 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylbLG und § 3 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 5 und 8 AsylbLG in der 2018 geltenden Fassung gegen die Verfassung verstößt. Die BAGFW ist der Auffassung, dass die verfahrensgegenständlichen Vorschriften nicht mit Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG vereinbar sind.

Inhalt:

  • Untauglichkeit der Begründungen für die Reduktion der Leistungen nach dem AsylbLG
    • Verfassungsrechtliche Voraussetzungen
    • Untauglichkeit des Statistikmodells für nach § 1 AsylbLG Leistungsberechtigte
    • Vermischung von Warenkorb- und Statistikmodell
  • Zur Gruppe nach § 1 AsylbLG und typischen Bedarfen.
    • Typische Mehrbedarfe der nach § 1 AsylbLG Leistungsberechtigten
    • Zusammenhang zwischen Aufenthaltsdauer und Bedarf und zu Bleibeperspektiven
    • Zusammenhang zwischen Bedarfen und rechtlichem Aufenthaltsstatus

Zusammenfassung und Ergebnis:

"Personen, die der Ägide des AsylbLG unterfallen, wenn sie staatlicher Leistungen zur Existenzsicherung bedürfen, bilden eine außerordentlich heterogene Gruppe. Bereits ihre aufenthaltsrechtlichen Lagen unterschieden sich ganz erheblich. Die Gruppe der nach § 1 AsylbLG Leistungsberechtigte wurde durch eine lange Reihe von Änderungen immer mehr und weit über den Kreis der Asylsuchenden hinaus erweitert, etwa mit der Aufnahme humanitärer Aufenthaltstitel oder der Ausdehnung auf Geduldete.

Zwar erhalten viele der Leistungsberechtigten nach 18 Monaten des Aufenthalts in Deutschland Analogleistungen nach § 2 AsylblG, doch wegen der Restriktionen des § 1a AsylbLG kann es zu weitaus längeren Zeiten des Bezugs von Leistungen kommen, die darüber hinaus nach Maßgabe von § 1a AsylbLG reduziert werden.

Belege dafür, dass die tatsächlichen Bedarfe der § 1 AsylbLG unterfallenden Gruppe sich dergestalt von den Bedarfen anderer Menschen unterschieden, dass eine vom Niveau des SGB XII und des SGB I zulasten dieser Gruppe abweichende Bezifferung des Existenzminimums verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre, existieren nicht. Dies gilt für den gesamten Zeitraum seit Inkrafttreten des AsylbLG. Die Reduktion des Leistungsniveaus für Schutzsuchende und immer mehr weitere Gruppen war von Anfang an und ist bis heute ausschließlich politisch motiviert.

Die argumentativen Strategien, die der Gesetzgeber in Reaktion auf den Beschluss des Senats vom 18.7.2012 entwickelt hat, um das Leistungsniveau nach dieser Entscheidung erneut und immer weiter abzusenken, erweisen sich durchgängig als unschlüssig. Ein besonderer Bedarf der Gruppe der § 1 AsylbLG unterfallenden Personen kann auf dem Wege des Statistikmodells denklogisch nicht bestimmt werden. Die Regelsätze nach dem SGB XII, denen eine Bestimmung des Leistungsniveaus nach dem Statistikmodell zugrunde liegen, können in schlüssiger Weise nur dann um Teilbeträge gekürzt werden, wenn der gesamte Bedarf der von dieser Kürzung betroffenen Personen nach Maßgabe des Regelsatzurteils vom 9.2.2010 ermittelt wird. Eine Abweichung vom Leistungsniveau des SGB XII lässt sich daher auf diesem Wege nicht in einer Weise rechtfertigen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen könnte.

Auf der anderen Seite liegen umfangreiche und nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür vor, dass schutzsuchende Menschen in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Deutschland Mehrbedarfe haben, die das Leistungsrecht nicht berücksichtigt.

Es steht dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen frei, den Anspruch auf existenzsichernde Leistungen für bestimmte Gruppen in besonderen Regelwerken zu statuieren. Auch dass das AsylbLG nicht Teil des Sozialgesetzbuchs ist, ist zwar aus sozialpolitischer Perspektive abzulehnen, nicht aber von Verfassungs wegen zu beanstanden. Doch die Bestimmung eines reduzierten Leistungsniveaus für die § 1 AsylbLG unterfallenden Menschen erscheint unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten nicht mit dem Menschenwürdegrundsatz und dem Sozialstaatsprinzip vereinbar."


Hinweis

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