Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022, der am 24. November 2022 bekanntgegeben wurde, hat das Bundesverfassungsgricht die Regelung des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG für verfassungswidrig erklärt (1 BvL 3/21 - asyl.net: M31094). Betroffen von der Regelung waren alleinstehende Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende wohnen und hier wiederum der Personenkreis, der zwar Leistungen nach AsylbLG bezieht, aber nach 18 Monaten des Aufenthalts in Deutschland bereits Anspruch auf die sogenannten Analogleistungen (nach § 2 AsylbLG) erworben hat. Diese Leistungen entsprechen den Beträgen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII ("Hartz IV" bzw. Sozialhilfe) gewährt werden. Mit der Neuregelung des Jahres 2019 waren alleinstehende sowie alleinerziehende Personen in Sammelunterkünften vom Regelsatz 1 (der sonst alleinstehenden erwachsenen Personen zusteht) auf den Regelsatz 2 (der für Ehepartner*innen vorgesehen ist) herabgestuft worden. Dies entspricht der damals getroffenen Neuregelung in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Bst. b AsylbLG für die ersten Monate des Aufenthalts, die jedoch nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war. Begründet wurden die Gesetzesänderungen damit, dass in Gemeinschaftsunterkünften zusammenlebende Menschen eine "Schicksalsgemeinschaft" bilden würden und durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen bei der Haushaltsführung erzielten könnten. In der Konsequenz erhielten Betroffene um 10% verringerte Leistungen (404 statt 449 Euro monatlich).
Sozialgerichte hielten die Regelung überwiegend für verfassungswidrig (siehe asyl.net Meldung vom 23.4.2021). Die Frage nach der Vereinbarkeit von § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz hatte das Sozialgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 13.4.2021 – S 17 AY 21/20 – (asyl.net: M29541) dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Im Ausgangsverfahren hatte ein "geduldeter" Empfänger von Leistungen des AsylbLG gegen den Leistungsbescheid geklagt, durch den ihm ab November 2019 nur noch Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bewilligt worden waren. Das Sozialgericht hatte das Verfahren ausgesetzt, weil es die Frage, ob § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungsgemäß ist, für klärungsbedürftig hielt.
Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht nun festgestellt, dass eine Absenkung von Leistungen durch die Gesetzgebung zwar nicht vollständig ausgeschlossen sei, da von Betroffenen erwartet werden könne, "tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern". Im Verfahren hätten sich aber "keine Anhaltspunkte" dafür ergeben, dass in Sammelunterkünften die Voraussetzungen dafür vorliegen, um dieser Erwartung nachzukommen und die angenommenen Einspareffekte zu erzielen. Die bloße Annahme, die Betroffenen bildeten eine "Schicksalsgemeinschaft", sei kein tragfähiger Beleg dafür, dass Betroffene ihre Bedarfe entsprechend verringern könnten. Die Gesetzgebung habe hierzu keine Erhebungen angestellt und lediglich Erwägungen vorgebracht, die nicht auf Tatsachen gestützt seien. Auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung lägen entsprechende empirische Erkenntnisse nicht vor.
Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss in den entsprechenden Fällen künftig die Regelbedarfsstufe 1 gewährt werden. Rückwirkend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dagegen nur dann anzuwenden, wenn die Leistungsbescheide bislang nicht bestandskräftig geworden sind (insbesondere, wenn noch Widerspruch oder Klage gegen den Bescheid laufen). In diesen Fällen ist die Regelbedarfsstufe 1 rückwirkend ab dem 1. September 2019 zu gewähren.
Erste Hinweise für die Beratungspraxis zum weiteren Vorgehen hat Rechtsanwalt Volker Gerloff heute in seinem Newsletter veröffentlicht (unten verlinkt).
Entscheidung des BVerfG: