Das Bundesverwaltungsgericht hatte dabei insbesondere um Klärung der Frage gebeten, ob Verfolgung im Sinne der sog. Qualifikationsrichtlinie auch dann vorliegt, wenn sich eine Verfolgungshandlung gegen die Religionsausübung in der Öffentlichkeit richtet (Beschluss vom 9. Dezember 2010 – 10 C 19.09 – asyl.net, M18315). Im Gegensatz dazu war die deutsche Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten davon ausgegangen, dass Verfolgung aus religiösen Gründen nur dann vorliege, wenn dem Betroffenen Eingriffe in den Kernbereich seiner religiösen Überzeugung (das sog. "religiöse Existenzminimum") drohten. Dieser Kernbereich wurde als die Ausübung des Glaubens im häuslichen und nachbarschaftlichen Bereich definiert. Entsprechend betrachtete es die deutsche Rechtsprechung auch grundsätzlich als zumutbar, die Betroffenen darauf zu verweisen, dass sie ihren Glauben auch außerhalb der Öffentlichkeit ausüben könnten.
Im Ergebnis verwirft der EuGH in seiner aktuellen Entscheidung (asyl.net, M19998) diese Rechtsauffassung vollständig: Entscheidend dafür, ob der Flüchtlingsstatus zu gewähren sei, ist laut EuGH allein die Frage, ob "vernünftigerweise erwartet" werden kann, dass der Asylsuchende "nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten."
Eine Pressemitteilung von Pro Asyl zur Entscheidung des EuGH finden Sie hier.
Eine Analyse des Urteils von Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx erscheint voraussichtlich im Asylmagazin 10/2012.