VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 30.09.2020 - 5 K 20653/17 Me - asyl.net: M29095
https://www.asyl.net/rsdb/M29095
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Afghanistan:

Homosexuellen Personen drohen in Afghanistan diskriminierende staatliche Maßnahmen sowie weitere flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch Private.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, homosexuell, Mann, Flüchtlingsanerkennung, nichtstaatliche Verfolgung, staatliche Verfolgung, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist jedoch wegen seiner Homosexualität Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG: Der Kläger hat zur vollen Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass er sich zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt. Frauen hingegen übten für ihn gar keinen Reiz aus. So habe er auch keine sexuellen Kontakte zu Frauen gehabt, seitdem er in Deutschland ist, sondern lediglich zu Männern. Der Kläger hat nachvollziehbar erläutert, wie er seine Homosexualität in Afghanistan ... entdeckt und später mit mehreren Partnern ausgelebt hat und konnte auch glaubhaft einen Vorfall schildern, bei dem er mit seinem damaligen Gefährten beim Geschlechtsakt überrascht und anschließend erpresst wurde. Insoweit kann der Kläger zudem die Wirkung des Art. 4 Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie für sich in Anspruch nehmen. Die Vernehmung des Zeugen ... hat zudem zur vollen Überzeugung des Gerichts geführt, dass der Kläger auch in Deutschland seine homosexuelle Identität lebt.

Das Gericht ist von der Glaubhaftigkeit der Ausführungen des Klägers überzeugt. Zwar hat er sein Verfolgungsschicksal und seine Homosexualität in der Anhörung beim Bundesamt noch nicht angegeben. Hierzu hat er aber in der mündlichen [Verhandlung] ausgeführt, dass er bei der Anhörung nicht den Mut hatte, über dieses Thema zu sprechen. Zudem sei ihm nicht bewusst gewesen, dass man in Deutschland als Lebenspartner gleichgeschlechtlich zusammenleben kann. Diese Ausführungen sind insoweit glaubhaft, als es für Afghanen grundsätzlich ein Tabu darstellt, über Sexualität zu sprechen, und das Eingeständnis, homosexuell zu sein, nahezu undenkbar ist. Erscheinung und Verhalten des Klägers unterstreichen zudem die Überzeugung des Gerichts weiter.

Dem Kläger droht aus diesem Grund mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form von physischer oder psychischer - einschließlich sexueller - Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), aber auch diskriminierender staatlichen Maßnahmen (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 bis 5 AsylG) durch den afghanischen Staat aber auch durch nicht staatlicher Akteure wie etwa den Taliban aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen:

So kennt die afghanische Verfassung kein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung (Amnesty International, Anfragebeantwortung v. 28.10.2019 an das VG Wiesbaden, S. 3; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan v. 29.06.2018, S. 305; Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 18.05.2018, S. 16). Vielmehr sieht das am 15.02.2018 in Kraft getretene afghanische Strafgesetzbuch in seinen Artikeln 645 und 649 ein Verbot gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs vor (sog. "Tafkhez" bzw. "Mosahigah"; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan v. 29.06.2018, S. 305). Vorgesehen sind Haftstrafen von bis zu zwei Jahren, in schweren Fällen sogar mehr. Nach der Scharia könnte gar die Todesstrafe als Höchststrafe verhängt werden (Amnesty International, Anfragebeantwortung v. 28.10.2019 an das VG Wiesbaden, S. 2; EASO, Country Guidance: Afghanistan, v. 01.06.2019, S. 66; vgl. zu letzterem auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan v. 29.06.2018, S. 305). Die Taliban sollen 2015 zwei Männer und einen Teenager wegen des Vorwurfs der Homosexualität zum Tode verurteilt haben (Amnesty International, Anfragebeantwortung v. 28.10.2019 an das VG Wiesbaden, S. 3; EASO, Country Guidance: Afghanistan, v. 01.06.2019, S. 66). Daneben soll es auch seitens des Staates zur Verhängung von Haftstrafen gekommen sein (Amnesty International, Anfragebeantwortung v. 28.10.2019 an das VG Wiesbaden, S. 7).

Generell werde Homosexualität weiterhin als unislamisch angesehen und gesellschaftlich stark tabuisiert (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.08.2018, S. 101; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan v. 29.06.2018, S. 305). Auch sähen sich Homosexuelle Diskriminierungen, Misshandlungen und Verhaftungen gegenüber (EASO, Country Guidance: Afghanistan, v. 01.06.2019, S. 66; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.08.2018, S. 101; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan v. 29.06.2018, S. 305; Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 18.05.2018, S. 16 und v. 02.09.2019, S. 18). Beispielsweise hätten Homosexuelle auch allenfalls begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung, könnten wegen ihrer sexuellen Orientierung entlassen oder enteignet sowie zu sexuellen Gefälligkeiten gedrängt werden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, v. 01.06.2019, S. 66; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.08.2018, S. 101). Dem könnten sie lediglich dadurch entgehen, dass sie ihre sexuelle Identität verleugnen und unterdrücken, auf von ihren Familien arrangierte Ehen eingehen und nur mit ihrem Ehepartner Geschlechtsverkehr sowie Kinder haben würden (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.08.2018, S. 101).

Während es zum einen keinen spezifischen rechtlichen Schutz der afghanischen Regierung gegen Diskriminierung oder Belästigung aufgrund der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Ausrichtung gibt, sieht das afghanische Strafrecht zudem eine Strafmilderung für Täter vor, die einen nahen Angehörigen aufgrund einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlung "zur Ehrverteidigung" umbringen (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017, S. 63 f.). Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt ergänzend aus, dass Gespräche über Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema sind und dieses Thema geheim gehalten wird. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet. Es besteht eine niedrige soziale Toleranz gegenüber Personen mit einer sexuellen Orientierung oder Genderidentität außerhalb der erwarteten Normen der Heterosexualität. Ein solches Bekenntnis ist ein soziales Tabu und wird als unislamisch betrachtet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, S. 325). Wegen der vorstehenden Umstände führt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe Homosexuelle als besonders gefährdet auf (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update vom 12.09.2018, S. 12).

In Ansehung dieser Erkenntnisse ist von einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr für Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung in Afghanistan auszugehen (so auch BayVGH, B. v. 14.08.2017 - 13a ZB 17.30807 -; VG Bremen, U. v. 25.02.2020 - 4 K 1174/17 -; VG Würzburg, U. v. 28.08.2019 - W 9 K 19.30942 -; VG Dresden, U. v. 22.08.2019 - 11 K 1351/16.A -; VG Hamburg, U. v. 14.12.2017 - 4 A 8009/16 -; alle zitiert nach juris). Von dieser Verfolgungsgefahr ist nach Auffassung des Gerichts auch der Kläger betroffen, da er bereits aufgrund seines Auftretens als homosexuell wahrgenommen wird.

Unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittellage ist der afghanische Staat nicht in der Lage oder nicht willens, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten.

Für den Kläger besteht in Afghanistan auch keine Möglichkeit eines internen Schutzes nach § 3e AsylG, weil die Verfolgungsgefahr landesweit besteht.

Nach alledem war dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. [...]