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VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 19.08.2020 - 7 K 5030/17.WI.A - asyl.net: M28811
https://www.asyl.net/rsdb/M28811
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen gesunden afghanischen Schutzsuchenden:

Abschiebungsverbot für afghanischen Schutzsuchenden: Auch aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan deutlich verschlechtert. Bei jungen und gesunden afghanischen Männern ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK anzunehmen, wenn weder eine schulische oder berufliche Vorbildung noch ein soziales oder familiäres Unterstützungsnetzwerk vorhanden ist

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, Familienangehörige, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Vorliegend sprechen bei einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan erhebliche Gründe dafür, dass sich die aufgrund der schwierigen Versorgungslage gegebene allgemeine Gefährdung durch besondere individuelle Umstände ausnahmsweise zu einem besonders hohen Gefahrenniveau in seiner Person verdichtet und dadurch eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sein könnte. [...]

Diese ohnehin schwierigen Lebensbedingungen haben sich nach dem Auftreten von Covid-19 in Afghanistan und seinen Nachbarstaaten weiter verschlechtert. Mittlerweile haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt, mehr als 1.280 sind daran gestorben [...].

Der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs wird in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (vgl. hierzu und zum Folgenden BFA, a.a.O.). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen - insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien -, die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen. Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14.03.2020 und dem 15.07.2020 um 12 % gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 bis 31 % gestiegen sind. [...]

Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in der ersten Jahreshälfte 2020 auf das Gesundheitssystem, den Arbeitsmarkt und die Nahrungsmittelversorgung haben den humanitären Bedarf weiter erhöht (vgl. hierzu und zum Folgenden Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16.07.2020 (im Folgenden: "AA Lagebericht"), S. 4 u. 22). Die Covid19-Krise geht mit einer wirtschaftlichen Rezession einher, welche die privaten Haushalte stark belastet. [...]

Vor dem Hintergrund dieser Verschärfung der ohnehin prekären Lage ist zu erwarten, dass vor allem die ärmeren Teile Bevölkerung, wie Tagelöhner, mit deutlich erschwerten Verhältnissen konfrontiert sind. Das Gericht geht davon aus, dass diese aufgrund des Auftretens von Covid-19-Fällen verschärften wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der absehbaren Zukunft andauern werden. Angesichts der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes ist - selbst bei vollständiger Aufhebung der Beschränkungen - nicht damit zu rechnen, dass sich die Wirtschaft kurzfristig erholen und sich die Lebensbedingungen für Rückkehrer rasch wieder entscheidend verbessern werden (vgl. hierzu und zum Ganzen auch VG Arnsberg, Urteil vom 02.07.2020 - 6 K 2576/17.A -, juris Rn. 31 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 15.05.2020 - A 19 K 16467/17 -, juris; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 05.05.2020 - 21 K 19075/17.A -, juris; VG Cottbus, Urteil vom 29.05.2020 - 3 K 633/20.A -, juris; jeweils mit weiteren Nachweisen). [...]