LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09.04.2020 - L 8 AY 4/20 B ER - Asylmagazin 6-7/2020, S. 244 f. - asyl.net: M28365
https://www.asyl.net/rsdb/M28365
Leitsatz:

Leistungskürzung weder wegen Mitwirkungspflichtverletzung noch wegen "Um-zu-Einreise" zulässig; Kürzungen möglicherweise nicht verfassungsgemäß:

1. Es bestehen Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der Leistungsbescheide, da die Antragstellenden zu den Leistungseinschränkungen nicht angehört und die Bescheide nicht begründet wurden.

2. Es bestehen Zweifel daran, dass der Antragsteller zu 1. das Abschiebungshindernis selbst zu vertreten hat, da er den Aufforderungen der Ausländerbehörde stets nachgekommen ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Leistungen schon seit Jahren gekürzt werden, die Ausländerbehörde aber lange Zeit keine konkreten Hinweise zur Mitwirkung an der Identitätsklärung gegeben hat. Daher ist auch die Kausalität zwischen Verletzung der Mitwirkungspflicht und Nichtausreise fraglich. Vielmehr ist die jahrelange Untätigkeit der Ausländerbehörde mitursächlich für die mangelnde Aufenthaltsbeendigung.

3. Bei der der Identitätsklärung von Personen der Volkszugehörigkeit der Roma ist zu berücksichtigen, dass sie in Serbien häufig nicht im Geburtsregister erfasst wurden (unter Bezug auf SG Hamburg, Urteil vom 7.5.2015 - S 20 AY 100/10).

4. Auch bei Ablehnung des Asylantrags als "offensichtlich unbegründet" kann nicht ohne weiteres angenommen werden, die Einreise sei erfolgt, um Sozialleistungen zu erhalten (sog. Um-zu-Einreise), wenn die Lebensbedingungen im Herkunftsland schwierig waren und Familienmitglieder sich in Deutschland um Arbeit bemüht haben.

5. Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob dauerhafte Leistungskürzungen wegen des Vorwurfs der "Um-zu-Einreise" grundsätzlich unzulässig sind, da es sich nicht um eine verhaltensbedingte Leistungskürzung handelt (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.9.2018 - L 23 AY 19/18 B ER). Auch zu klären sind die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die in § 14 Abs. 1 AsylbLG vorgesehene Kürzungbefristung auf sechs Monate.

6. Nach der Entscheidung des BVerfG zu SGB II-Sanktionen (Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16 - asyl.net: M27819) ist grundsätzlich fraglich, ob die Kürzungen nach § 1a AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Einreise um Leistungen zu erlangen, offensichtlich unbegründet, Anspruchseinschränkung, Leistungskürzung, Analogleistungen, Passpflicht, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Roma, Serbien, Kosovo, Sozialleistungen, Existenzminimum, Verhältnismäßigkeit, Sozialrecht, dauerhaft, Befristung, Menschenwürde, Verfassungsmäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz, Sanktion, Sanktionen, Anhörung, Verfahrensfehler,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 3 S. 1, AsylbLG § 2 Abs. 1, AufenthG § 60a, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5, AsylbLG § 1a Abs. 2, AsylbLG § 1a Abs. 1 S. 2, AufenthG § 48 Abs. 3, AufenthG § 49 Abs. 1, AsylbLG § 14 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller haben einen (Anordnungs-)Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII glaubhaft gemacht. Sie sind als Inhaber einer Duldung nach § 60a AufenthG gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG leistungsberechtigt nach dem AsylbLG und vollziehbar Ausreisepflichtige im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG.

Das Vorliegen der Voraussetzungen der Leistungseinschränkungen des § 1a AsylbLG bei dem Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 2. erscheint nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht hinreichend gesichert. So bestehen schon Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der Bescheide vom 25.11.2019, 6.2.2020 und 26.2.2020, weil die Antragsteller zu 1. und 2. nach Aktenlage (seit Einsetzen der Kürzungen Anfang 2017) bis heute nicht zu den maßgeblichen Gründen einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG angehört worden sind. Auch fehlt in den Bescheiden eine Begründung der Leistungseinschränkung.

Auch in materieller Hinsicht ist das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Leistungseinschränkungen, für die der Antragsgegner darlegungs- und beweisbelastet ist, nicht hinreichend gesichert. Es bestehen ernsthafte Zweifel, ob die Voraussetzungen des § 1a Abs. 3 AsylbLG gegenüber dem Antragsteller zu 1. erfüllt sind. [...]

Nach diesen Maßgaben erscheint ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 1a Abs. 3 AsylbLG gegenüber dem Antragsteller zu 1. nicht überwiegend wahrscheinlich. Dieser ist von der Ausländerbehörde ausweislich der vorliegenden Aktenvorgänge nicht hinreichend konkret zur Mitwirkung im aufenthaltsrechtlichen Verfahren aufgefordert worden. [...] Insbesondere bestehen erhebliche Zweifel am Vertretenmüssen des Antragstellers zu 1., der im Laufe des Verfahrens vor der Ausländerbehörde den entsprechenden Aufforderungen stets nachgekommen ist, während die Ausländerbehörde ihn nicht konkret zu den im Bescheid vom 13.5.2019 aufgeführten Möglichkeiten ausdrücklich unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht aufgefordert hat. Dabei ist ferner zu berücksichtigen, dass Roma nicht selten nicht im Geburtsregister erfasst wurden (SG Hamburg, Urteil vom 7.5.2015 - S 20 AY 100/10 - juris Rn. 57) und der Antragsteller zu 1. darauf verwiesen hat, dass auch seine Mutter über keine Identitätsnachweise verfüge. Seinen Angaben zufolge hat er nur ein Jahr lang die Schule besucht. Ferner ist zu würdigen, dass die Antragsgegnerin die Leistungen schon seit mehr als zwei Jahren kürzt, sich jedoch erstmalig im Ablehnungsbescheid der Ausländerbehörde vom 13.5.2019 Hinweise auf noch bestehende Optionen zur Identitätsklärung finden, zumal eine Anhörung vor Beginn der Leistungseinschränkung nicht vorgenommen wurde. Es erfolgte vielmehr über Jahre lediglich die leistungsrechtliche Sanktionierung, die im Übrigen - bei ihrem Beginn - nicht mit der fehlenden Identitätsklärung begründet worden war. Vor diesem Hintergrund bestehen zudem Zweifel an der erforderlichen Kausalität, da die nunmehr erst nach mehreren Jahren nach tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung aufgezeigten weiteren Möglichkeiten der Identitätsklärung nicht zwingend den Schluss darauf zulassen, dass die mangelnde Aufenthaltsbeendigung allein dem Antragsteller zu 1. zuzuschreiben ist, sondern vielmehr die über Jahre erfolgte Untätigkeit der Ausländerbehörde in Form einer konkreten Mitwirkungsaufforderung eine entscheidende konkurrierende Mitursache gesetzt hat.

Die Voraussetzungen der Leistungseinschränkung des § 1a Abs. 2 AsylbLG für die Antragsteller zu 1. und 2. können ebenfalls nicht mit der hinreichenden Sicherheit im Eilverfahren festgestellt werden. [...]

Zwar ist die Antragstellerin zu 2. bereits 2011 nach Deutschland eingereist und hat erfolglos ein Asylverfahren geführt. Dieser Umstand allein rechtfertigt jedoch noch nicht die Annahme einer (Wieder-)Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs. Auch die Ablehnung ihres zweiten Asylantrages als offensichtlich unbegründet führt nicht zwangsläufig zu einer solchen Annahme. Nach einer Gesamtwertung der Umstände spricht einiges dafür, dass die Antragsteller zur Schaffung einer Lebensgrundlage für ihre Familie, die seinerzeit ein eineinhalbjähriges und ein halbjähriges Kind umfasste, nach Deutschland eingereist sind, da die Baracke, in der sie nach eigenen Angaben gelebt haben, unter Wasser gestanden hat und der Antragsteller zu 1. mangels Papieren keine Aussicht auf Arbeit in Serbien hatte. Diese Umstände lassen aber - für sich genommen - nicht den Schluss zu, dass die Einreise zum Zweck des Leistungsbezugs erfolgt ist. Vielmehr hat der Antragsteller zu 1. bei der Ausländerbehörde Arbeitsangebote (mit Aussicht auf Einstellung) eingereicht und um eine Beschäftigungserlaubnis nachgesucht (am 13.1.2017, Mitte 2017, 25.8.2017). Insoweit ist es nicht ausgeschlossen, dass er die Lebensgrundlage für seine Familie in Deutschland mit eigenen Kräften so weit als möglich sicherstellen wollte.

Für einen Leistungszuspruch im Eilverfahren spricht vorliegend zudem, dass im Hauptsacheverfahren zu klären sein wird, ob mit der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung eine Anspruchseinschränkung in dem vorliegend streitigen Fall der sog. "Um-zu-Einreise" aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht auf Dauer gerechtfertigt ist, weil es sich nicht um eine verhaltensbedingte Leistungseinschränkung handelt (so etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.9.2018 - L 23 AY 19/18 B ER - juris Rn. 4; SG Landshut, Beschluss vom 17.10.2018 - S 11 AY 153/18 ER - juris Rn. 42; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 1a Rn. 32 und § 14 Rn. 18; Siefert in Siefert, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 1a Rn. 21 f.; Hohm in Schallhorn/ Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 1a AsylbLG Rn. 48).

Auch ist fraglich, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen die nach § 14 Abs. 1 AsylbLG vorgegebene Beschränkung der Befristung auf sechs Monate hat (vgl. dazu etwa Bayerisches LSG, Beschluss vom 19.3.2018 - L 18 AY 7/18 B ER - juris Rn. 24; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.6.2018 - L 9 AY 1/18 B ER - juris Rn. 47; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.6.2018 - L 7 AY 1511/18 ER-B - juris Rn. 10; SG Magdeburg, Beschluss vom 30.9.2018 - S 25 AY 21/18 ER - juris Rn. 23; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 14 Rn. 23; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 14 Rn. 10). Die Klärung dieser Frage bleibt ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Schließlich wirft auch die Entscheidung des BVerfG vom 5.11.2019 (- 1 BvL 7/16 -) zu den Sanktionen im SGB II die grundlegende Frage der Vereinbarkeit der Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) auf, der im Hauptsacheverfahren weiter nachzugehen sein wird. [...]

Davon ausgehend ergeben sich aus dem Verhalten des Antragstellers zu 1. keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass dieser die Mitwirkung an der Identitätsfeststellung über Jahre bewusst verzögert hätte, zumal sich substantielle Mitwirkungsaufforderungen der Ausländerbehörde nicht feststellen lassen. Dass die Antragsteller zu 1. und 2. trotz Ausreisepflicht mit ihren Kindern nicht freiwillig ausreisen, ist ebenfalls kein rechtsmissbräuchliches Verhalten (vgl. BSG, Urteil vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - juris Rn. 32 ff.). Auch die Vaterschaftsanerkennung gibt keine Hinweise auf eine Rechtsmissbräuchlichkeit. Das Bestreben der Antragsteller zu 1. und 2., eine Lebensgrundlage für ihre minderjährige Kinder umfassende Familie zu schaffen, ist gleichfalls nicht als rechtsmissbräuchlich zu werten. [...]