EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 02.04.2020 - C-715/17, C-718/17; C-719/17 EU-Kommission gg. Polen, Ungarn, Tschechische Republik - asyl.net: M28288
https://www.asyl.net/rsdb/M28288
Leitsatz:

Verstoß Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik gegen EU-Relocation-Beschlüsse:

1. Ungarn, Polen und die Tschechische Republik haben gegen die Beschlüsse vom 14. und 22. September 2015 zur Umsiedlung von Asylsuchenden aus Italien und Griechenland (sogenannte Relocation-Programme) verstoßen, indem sie weder entsprechende Maßnahmen getroffen noch in regelmäßigen Abständen eine Aufnahmebereitschaft gemeldet haben.

2. Eine solche Rechtsverletzung kann nicht mit einer pauschalen Berufung auf die sogenannte Ordre-Public-Klausel des Art. 72 AEUV und damit auf Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung allein auf Grundlage generalpräventiver Erwägungen und ohne Zusammenhang mit einem Einzelfall gerechtfertigt werden.

(Leitsätze der Redaktion; Vertragsverletzungsverfahren)

Siehe auch:

Schlagwörter: Relocation, Umsiedlung, Griechenland, Italien, Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Vertragsverletzungsverfahren, Unionsrecht, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Verteilung,
Normen: Art. 72 AEUV, Art. 78 AEUV, Art. 80 AEUV, Art. 258 AEUV, Art. 5 Abs. 2, Beschluss (EU) 2015/1523 Abs. 4-11, Beschluss (EU) 2015/1601 Art. 5 Abs. 2, Beschluss (EU) 2015/1601 Art. 5 Abs. 4-11,
Auszüge:

[...]

132 Somit ist festzustellen, dass die Kommission das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzungen in den drei betreffenden Vertragsverletzungsverfahren nachgewiesen hat.

133 Die drei betroffenen Mitgliedstaaten tragen jedoch eine Reihe von Argumenten vor, die rechtfertigen sollen, dass sie die Beschlüsse 2015/1523 und 2015/1601 unangewendet ließen. Dabei handelt es sich zum einen um Argumente betreffend die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit, die die Republik Polen und Ungarn auf Art. 72 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 EUV stützen, und zum anderen um Argumente, mit denen die Tschechische Republik das Nichtfunktionieren und die Ineffektivität des in diesen Beschlüssen vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus geltend machen. [...]

143 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch bedeutet dies nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären. Der Vertrag sieht nämlich, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in den Art. 36, 45, 52, 65, 72, 346 und 347 AEUV vor, die ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle betreffen. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des Vertrags anerkannt, so könnte dies die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 15. Dezember 2009, Kommission/Dänemark, C-461/05, EU:C:2009:783, Rn. 51, und vom 4. März 2010, Kommission/Portugal, C-38/06, EU:C:2010:108, Rn. 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

147 Es obliegt dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, nachzuweisen, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen (vgl. entsprechend Urteile vom 15. Dezember 2009, Kommission/Dänemark, C-461/05, EU:C:2009:783, Rn. 55, und vom 4. März 2010, Kommission/Portugal, C-38/06, EU:C:2010:108, Rn. 66). [...]

159 Allerdings können sich die Behörden des Umsiedlungsmitgliedstaats auf die berechtigten Gründe dafür, eine internationalen Schutz beantragende Person als eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung zu betrachten, ebenso wie auf die schwerwiegenden Gründe für die Anwendung der Ausnahmen gemäß den Art. 12 und 17 der Richtlinie 2011/95 nur dann berufen, wenn übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien vorliegen, die den Verdacht stützen, dass der betreffende Antragsteller eine solche gegenwärtige oder potenzielle Gefahr darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, E.P. [Gefahr für die öffentliche Ordnung], C-380/18, EU:C:2019:1071, Rn. 49), und nachdem diese Behörden für jeden Antragsteller, dessen Umsiedlung vorgeschlagen wird, eine Prüfung der Tatsachen vorgenommen haben, von denen sie Kenntnis haben, um zu bestimmen, ob bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände des betreffenden Einzelfalls solche berechtigten Gründe vorliegen.

160 Daraus folgt, dass die im Rahmen des Umsiedlungsverfahrens in Art. 5 Abs. 4 und 7 der Beschlüsse 2015/1523 und 2015/1601 vorgesehene Regelung den zuständigen Behörden des Umsiedlungsmitgliedstaats eine Berufung auf schwerwiegende oder berechtigte Gründe betreffend die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet erst nach Durchführung einer Einzelfallprüfung der gegenwärtigen oder potenziellen Gefahr, die die betreffende internationalen Schutz beantragende Person für diese Interessen darstellte, gestattete. Sie stand somit, wie auch die Generalanwältin in Nr. 223 ihrer Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat sich im Rahmen dieses Verfahrens allein zu Zwecken der Generalprävention und ohne Nachweis eines unmittelbaren Zusammenhangs mit einem Einzelfall kategorisch auf Art. 72 AEUV berief, um eine Aussetzung oder gar eine Beendigung der Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Beschluss 2015/1523 und/oder dem Beschluss 2015/1601 zu rechtfertigen. [...]

179 Im vorliegenden Fall stützt sich die Tschechische Republik im Rahmen ihrer Verteidigung in dem sie betreffenden Vertragsverletzungsverfahren auf Erwägungen bezüglich des angeblichen Nichtfunktionierens bzw. der angeblichen Ineffektivität des in den Beschlüssen 2015/1523 und 2015/1601 vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus in seiner konkreten Anwendung einschließlich des in Art. 5 Abs. 4 und 7 dieser Beschlüsse vorgesehenen spezifischen Mechanismus – der es den Mitgliedstaaten ermöglichen sollte, die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet im Rahmen des Umsiedlungsverfahrens zu schützen –, um damit ihre Entscheidung zu rechtfertigen, ihre Umsiedlungsverpflichtungen nach Art. 5 Abs. 2 und 4 bis 11 der genannten Beschlüsse nicht zu erfüllen.

180 Hierzu ist festzustellen, dass das den Beschlüssen 2015/1523 und 2015/1601 inhärente Ziel der Solidarität sowie der verbindliche Charakter dieser Rechtsakte beeinträchtigt würden, ließe man es zu, dass sich ein Mitgliedstaat, im Übrigen ohne dazu eine in den Verträgen vorgesehene Rechtsgrundlage geltend zu machen, auf seine einseitige Beurteilung des behaupteten Mangels an Effektivität oder gar des angeblichen Nichtfunktionierens des durch diese Rechtsakte geschaffenen Umsiedlungsmechanismus u. a. in Bezug auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Wahrung der inneren Sicherheit stützen kann, um sich jeglicher Umsiedlungsverpflichtung, die ihm nach diesen Rechtsakten obliegt, zu entziehen.

181 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass, wie bereits in Rn. 80 des vorliegenden Urteils hervorgehoben worden ist, die mit den in den Beschlüssen 2015/1523 und 2015/1601 vorgesehenen vorläufigen Maßnahmen verbundenen Belastungen aufgrund dessen, dass diese Beschlüsse gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen wurden, um die Hellenische Republik und die Italienische Republik dabei zu unterstützen, eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet geprägte Notlage besser zu bewältigen, im Einklang mit dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, der nach Art. 80 AEUV für die Politik der Union im Asylbereich gilt, grundsätzlich auf alle anderen Mitgliedstaaten aufgeteilt werden müssen. [...]

189 Nach alledem ist festzustellen, dass

– die Republik Polen vom 16. März 2016 an dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 2015/1523 und Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 2015/1601 und folglich gegen ihre anschließenden Verpflichtungen zur Umsiedlung nach Art. 5 Abs. 4 bis 11 dieser beiden Beschlüsse verstoßen hat, dass sie nicht in regelmäßigen Abständen, zumindest aber alle drei Monate, die entsprechende Zahl der internationalen Schutz beantragenden Personen angegeben hat, die schnell in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden konnten,

– Ungarn vom 25. Dezember 2015 an dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 2015/1601 und folglich gegen seine anschließenden Verpflichtungen zur Umsiedlung nach Art. 5 Abs. 4 bis 11 dieses Beschlusses verstoßen hat, dass es nicht in regelmäßigen Abständen, zumindest aber alle drei Monate, die entsprechende Zahl der internationalen Schutz beantragenden Personen angegeben hat, die schnell in sein Hoheitsgebiet umgesiedelt werden konnten und

– die Tschechische Republik vom 13. August 2016 an dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 2015/1523 und Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 2015/1601 und folglich gegen ihre anschließenden Verpflichtungen zur Umsiedlung nach Art. 5 Abs. 4 bis 11 dieser beiden Beschlüsse verstoßen hat, dass sie nicht in regelmäßigen Abständen, zumindest aber alle drei Monate, die entsprechende Zahl der internationalen Schutz beantragenden Personen angegeben hat, die schnell in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden konnten. [...]