OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.12.2018 - 3 S 98.18 - Asylmagazin 1-2/2019, S. 38 f. - asyl.net: M26883
https://www.asyl.net/rsdb/M26883
Leitsatz:

Anspruch auf Geschwisternachzug zu inzwischen volljährigem Flüchtling:

1. Einstweilige Anordnung zur Erteilung eines Visums an die 11-jährigen Schwester eines in Deutschland anerkannten, mittlerweile volljährigen Flüchtlings für die gemeinsame Einreise mit der Mutter.

2. Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: <link rsdb m26143>M26143) ist davon auszugehen, dass die Mutter auch nach Eintritt der Volljährigkeit ihres Sohnes einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 04.09.2018 - OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18 - asyl.net: M26617). Denn der vom EuGH festgestellte Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit wäre praktisch inhaltsleer (hierzu o.g. EuGH Urteil A. und S., Rn. 55), wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt von einer gewissen Dauer anschließen würde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familiennachzug, Geschwisternachzug, unbegleitete Minderjährige, minderjährig, Volljährigkeit, Visum, Aufenthaltserlaubnis, Wohnraumerfordernis, Sicherung des Lebensunterhalts, Familienzusammenführung,
Normen: AufenthG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

11 Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie mit die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigender hoher Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG hat.

12 Zwar setzen § 29 Abs. 1, § 32 Abs. 1 AufenthG voraus, dass der allein sorgeberechtigte Elternteil, zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU ist. Insoweit ist jedoch ein Voraufenthalt im Bundesgebiet nicht zwingend. Trotz der formalen Differenzierung zwischen Visum und Aufenthaltserlaubnis als unterschiedliche Formen eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) reicht der elterliche Besitz eines nationalen Visums als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und dem Elternteil angesichts des erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird. Dies ist vor allem im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass sich bereits die Erteilung des elterlichen Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die Niederlassungserlaubnis und die zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften richtet, so dass es reiner Formalismus wäre, zunächst die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet abzuwarten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 - juris Rn. 3 m.w.N.). Hier ist der Mutter der Antragstellerin ein Visum nach § 36 Abs. 1 AufenthG zwar nur mit Gültigkeit bis zum 31. Dezember 2018, bis zur Volljährigkeit ihres als Flüchtling anerkannten Sohnes A., erteilt worden. Mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. April 2018 (C-550/16 - juris), wonach ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjähriger" im Sinne des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 anzusehen ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - juris Rn. 64), spricht aber Überwiegendes dafür, dass die Mutter der Antragstellerin nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet trotz zwischenzeitlichen Eintritts der Volljährigkeit ihres Sohnes A. gegenüber der Beigeladenen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 1 AufenthG haben wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. September 2018 - OVG 3 S 47.18/OVG 3 M 52.18 - juris Rn. 6; anders noch Beschluss vom 16. September 2016 - OVG 3 S 42.16 - juris Rn. 6). Der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit des zunächst noch minderjährigen Flüchtlings würde seiner praktischen Wirksamkeit (zu diesem Gesichtspunkt vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 - juris Rn. 55) beraubt, wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt zumindest von einer gewissen Dauer anschließen würde. [...]

14 Das Aufenthaltsrecht der Mutter der Antragstellerin im Bundesgebiet nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist, wie ausgeführt, unabhängig von der Frage, wie lange es den Eintritt der Volljährigkeit des Bruders A. der Antragstellerin überdauern wird, jedenfalls nicht von vornherein eng begrenzt. Im Übrigen ist zwar für die Frage eines (sicheren) Bleiberechts des den Anspruch auf Kindernachzug vermittelnden Elternteils - hier der Mutter der Antragstellerin - der Ausgang eines erst noch durchzuführenden Asylverfahrens von den insoweit unzuständigen Ausländerbehörden oder Auslandsvertretungen der Antragsgegnerin grundsätzlich nicht zu prognostizieren oder vorwegzunehmen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 - OVG 3 S 98.16 - juris Rn. 7; Beschluss vom 28. September 2016 - OVG 3 S 55.16 - juris Rn. 6). Dennoch ist hier - unabhängig von einer etwaigen Gewährung von Familienasyl nach § 26 Abs. 3 AsylG - die gerichtsbekannte Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu berücksichtigen, das aus Syrien stammenden Antragstellern regelmäßig (jedenfalls) subsidiäre Schutzberechtigung nach § 4 AsylG zuerkennt, die seit dem 1. August 2018 (Art. 1 Nr. 6, Art. 6 des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes vom 12. Juli 2018, BGBl. I S. 1147) Grundlage eines Familiennachzugsanspruchs aus humanitären Gründen nach § 36a AufenthG sein kann. Insoweit hat sich die Rechtslage gegenüber der nach § 104 Abs. 13 AufenthG a.F. (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - 2 bvR 1758/17 - juris) wesentlich verändert. Hinzu kommen, abgesehen von ihrer eine kontinuierliche Medikamenteneinnahme erforderlich machenden Schilddrüsenerkrankung, das geringe Alter der im April 2007 geborenen, mit elf Jahren noch in besonderem Maße auf ein Aufwachsen in der Kernfamilie angewiesenen Antragstellerin (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 32), und der Umstand, dass diese Kernfamilie außer der Mutter - der Vater der Antragstellerin ist 2013 verstorben - nach dem vorgelegten Auszug aus dem Personenstandsregister vier Brüder umfasst, die sich, was auch die Antragsgegnerin nicht bestreitet, alle in Deutschland aufhalten. Ob die im Visumantrag genannten Schwestern der Mutter die Antragstellerin vorübergehend betreuen könnten, ist ebenso wenig bekannt wie ihr aktueller Aufenthaltsort; in ihrem Remonstrationsschreiben vom 10. Oktober 2017 hatte die Mutter erklärt, diese lebten im damals noch belagerten Ost-Ghouta, und nicht, wie die Antragstellerin und ihre Mutter, in Altal.

15 Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr ein Abwarten bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache wegen drohender schwerer Nachteile nicht zumutbar ist. Falls ihre Mutter, wie mit dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch Vorlage einer Flugbuchung für den 28. Dezember 2018 glaubhaft gemacht, von dem ihr bis zum 31. Dezember 2018 erteilten Visum Gebrauch macht, bliebe sie als elfjähriges Kind ohne Angehörige ihrer Kernfamilie und ohne sonst sichergestellte Betreuung in Syrien zurück. Falls ihre Mutter, um dies zu vermeiden, auf die Nutzung ihres Visums verzichten sollte, droht ihr - der Mutter - ungeachtet der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union der endgültige Verlust ihres Nachzugsrechts. Auch wenn der Anspruch auf Nachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling mit dessen Volljährigkeit nicht untergeht, wenn der Asylantrag zuvor gestellt worden war, wäre hier nämlich zu bedenken, dass der Visumanspruch der Mutter der Antragstellerin von der Antragsgegnerin bereits 2017 positiv beschieden worden war. Ob in einem derartigen Fall der - erfüllte - Visumanspruch über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus fortbesteht bzw. wieder auflebt, wenn das sorgeberechtigte Elternteil von dem erteilten Visum keinen Gebrauch macht, ist zumindest fraglich. Angesichts dessen ist der Mutter der Antragstellerin ein Verbleib in Syrien ebenso wenig zumutbar wie der Antragstellerin ein Zurückbleiben ohne sie. [...]