Kein vorläufiges Visum zum Geschwisternachzug:
Änderung des Eilrechtsbeschlusses des VG, welches die Visaerteilung für Geschwisterkinder eines in Deutschland als Flüchtling anerkannten Minderjährigen zur gemeinsamen Einreise mit den Eltern angeordnet hatte.
1. Grundsätzlich kann einem Kind ein Visum gem. § 32 Abs. 1 AufenthG zum Nachzug zum Elternteil erteilt werden, auch wenn der Elternteil selbst noch nicht in Deutschland ist, aber ein nationales Visum hat, ihm voraussichtlich ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird und die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll.
2. Der Erteilung der begehrten Visa zum Kindernachzug zur gemeinsamen Einreise mit den Eltern steht entgegen, dass der Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Ob ausnahmsweise von diesem Erfordernis abgesehen werden kann, richtet sich neben der Situation im Herkunftsland danach, ob die Eltern längerfristig über ein Bleiberecht in Deutschland verfügen werden, welches ein Recht zum Kindernachzug vermittelt (zitiert OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 16.9.2016 - OVG 3 S 42.16 - asyl.net: M24583).
3. Ein Bleiberecht der Eltern ist nicht anzunehmen, wenn ihr in Deutschland als Flüchtling anerkanntes Kind demnächst volljährig wird. Entgegen der Auffassung des VG gilt dies auch wenn die Eltern nach Einreise Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylG erlangen können.
4. Ein Anspruch auf Nachzug "sonstiger Familienangehöriger" nach § 36 Abs. 2 AufenthG ist mangels außergewöhnlicher Härte nicht ersichtlich.
(Leitsätze der Redaktion, Vorinstanz: VG Berlin Beschluss vom 9.11.2016, Az: 33 L 375.16 V)
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1. Entgegen der Beschwerde scheitert der auf § 32 Abs. 1 AufenthG gestützte Nachzugsanspruch allerdings nicht von vornherein daran, dass die sich weiterhin im Irak aufhaltenden Eltern der Antragsteller derzeit nur im Besitz eines befristeten nationalen Visums nach § 6 Abs. 3, § 36 Abs. 1 AufenthG sind und mit den Antragstellern gemeinsam ausreisen möchten. Zwar setzen § 29 Abs. 1, § 32 Abs. 1 AufenthG voraus, dass der allein sorgeberechtigte Elternteil bzw. - hier - beide Eltern, zu denen der Nachzug begehrt wird, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU sind. Insoweit ist jedoch ein Voraufenthalt im Bundesgebiet nicht zwingend. Trotz der formalen Differenzierung zwischen Visum und Aufenthaltserlaubnis als unterschiedliche Formen eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) reicht der elterliche Besitz eines nationalen Visums als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und den Eltern angesichts des ihnen erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird. Dies ist vor allem im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass sich bereits die Erteilung des elterlichen Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die Niederlassungserlaubnis und die zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften richtet, sodass es reiner Formalismus wäre, zunächst die sich an das Visum anschließende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet abzuwarten (vgl. dazu auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2015 – OVG 3 S 95.15 – juris Rn. 2; Hailbronner, Aufenthaltsgesetz, Kommentar, § 29 Rn. 5; Marx, in: GK-AufenthG, § 29 Rn. 28 ff., s. auch Ziffer 29.1.2.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz). Hier können die Eltern der Antragsteller nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet aufgrund der ihnen erteilten Visa bis zum 1. Februar 2017 Aufenthaltserlaubnisse nach § 36 Abs. 1 AufenthG beanspruchen.
2. Der Erteilung der von den Antragstellern nach § 6 Abs. 3, § 32 Abs. 1 AufenthG begehrten Visa steht jedoch entgegen, dass ihr Lebensunterhalt im Bundesgebiet nicht gesichert ist, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Ein Ausnahmefall von dieser allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung ist – auch unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts – nicht glaubhaft gemacht. Die Beantwortung der Frage, ob beim Kindernachzug ausnahmsweise von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden kann, richtet sich in Fällen wie dem vorliegenden neben der Situation im Herkunftsland u.a. nach dem Zweck der den Eltern erteilten Aufenthaltserlaubnis und ihrem weiteren, einen Kindernachzug vermittelnden (sicheren) Bleiberecht im Bundesgebiet (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2016 – OVG 3 S 55.16 – juris Rn. 3; Beschluss vom 16. September 2016 – OVG 3 S 42.16 – juris). Ist dieses Bleiberecht zeitlich eng begrenzt, erscheint es auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GR-Charta schon deshalb regelmäßig nicht unverhältnismäßig, keine Ausnahme von der gebotenen Sicherung des Lebensunterhaltes anzunehmen, sofern nicht die Würdigung der Umstände des Einzelfalles etwas anderes ergibt (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32/07 – juris Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16/12 – juris Rn. 15 ff.).
Hier wird das Aufenthaltsrecht der Eltern der Antragsteller im Bundesgebiet auf der Grundlage des nach § 36 Abs. 1 AufenthG erteilten Visums mit Ablauf des 1. Februar 2017 enden, weil der als Flüchtling im Bundesgebiet lebende Sohn am 2. Februar 2017 sein 18. Lebensjahr vollendet. Der Anspruch der Eltern auf Nachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Kind volljährig wird. Das Nachzugsrecht der Eltern, das seine Grundlage in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2003/86/EG hat, dient allein dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind. Dies zeigt sich auch darin, dass das Aufenthaltsgesetz den nachgezogenen Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling im Bundesgebiet lebenden Kindes grundsätzlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht eröffnet (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12 – juris Rn. 12 und Rn. 18 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. September 2016 – OVG 3 S 42.16 – juris Rn. 6).
Anders als das Verwaltungsgericht meint, können sich die Antragsteller nicht darauf berufen, dass ihren Eltern ein über den 1. Februar 2017 hinausgehendes Bleiberecht zustehe, weil sie Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylG erlangen könnten, wenn sie unverzüglich nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet einen Asylantrag stellten.
Gegen die Annahme eines derartigen (sicheren) Bleiberechts, das geeignet sein könnte, einen Ausnahmefall im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu rechtfertigen, spricht bereits, dass die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz die Einleitung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet voraussetzt und damit von einem bislang nicht gestellten Antrag der Eltern der Antragsteller abhängt, den diese vom Ausland aus nicht stellen können (vgl. § 13, § 18 AsylG). Dass die Eltern diesen Antrag nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet anbringen werden, mag zwar wahrscheinlich sein, ist aber derzeit dennoch ungewiss. Ein hypothetischer Antrag kann grundsätzlich (noch) keine Rechtsposition vermitteln, auf die sich der Betroffene zu seinen Gunsten berufen könnte; dies gilt erst Recht für ein Begehren in einem einstweiligen Anordnungsverfahren unter Vorwegnahme der Hauptsache. Unabhängig davon unterliegt der (unterstellte) Asylantrag der Eltern der insoweit allein verbindlichen Prüfung durch die hierfür zuständige und am Visumverfahren nicht beteiligte Behörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in einem eigenständigen Verfahren (vgl. § 5 Abs. 1, § 6 AsylG). Vor diesem Hintergrund ist der Ausgang eines erst noch durchzuführenden Asylverfahrens grundsätzlich nicht von den insoweit unzuständigen Ausländerbehörden oder den Auslandsvertretungen der Antragsgegnerin bei der Beantwortung der Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis oder ein Visum erteilt werden muss, zu prognostizieren oder gar vorwegzunehmen. Der Gesetzgeber hat das Asylverfahren und das aufenthaltsrechtliche Verfahren deutlich voneinander getrennt und unterschiedlich ausgestaltet (vgl. zum Verfahren beim Bundesamt §§ 23 ff. AsylG). Während der Durchführung des Asylverfahrens erhält der Betroffene lediglich eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylG), die seinen im Ausland verbliebenen Familienangehörigen keinen Nachzugsanspruch vermittelt. Hier würde das den Eltern bereits erteilte Visum bzw. die im Bundesgebiet zu erteilende Aufenthaltserlaubnis mit der Asylantragstellung zudem nach § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG erlöschen, weil davon auszugehen ist, dass deren jeweilige Gesamtgeltungsdauer unter sechs Monaten liegt. Erst nach erfolgreich durchlaufenem Asylverfahren kommt nach der Konzeption des Gesetzgebers die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht (vgl. § 25 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG), wobei der Gesetzgeber den Familiennachzug zu Personen mit subsidiärem Schutz derzeit gemäß § 104 Abs. 13 AufenthG beschränkt hat. Auch insoweit wird deutlich, dass ein etwaiges Aufenthaltsrecht infolge eines Asylverfahrens grundsätzlich nicht vor dessen Abschluss fingiert werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2016 – OVG 3 S 55.16 – juris Rn. 6).
Diesem Ergebnis stehen unionsrechtlichen Vorschriften nicht entgegen. § 36 Abs. 1 AufenthG setzt Art. 10 Abs. 3 a) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 (Familienzusammenführungsrichtlinie) zutreffend und abschließend um. Insoweit normiert die Familienzusammenführungsrichtlinie einen von der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängigen Anspruch auf Familienzusammenführung mit einem minderjährigen unbegleiteten Flüchtling nur für Verwandte in gerader aufsteigender Linie ersten Gerades, nicht jedoch für die Geschwister des Flüchtlings. Vor diesem Hintergrund ist es unionsrechtskonform und widerspricht nicht dem Grundsatz der effektiven Rechtsausübung, die Gewährung von Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG auch in diesen Fällen grundsätzlich von einer Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) abhängig zu machen, ohne dass regelmäßig ein Ausnahmefall angenommen werden müsste. Dies gilt umso mehr, als das Nachzugsrecht der Eltern mit der Volljährigkeit des minderjährigen Flüchtlings entfällt und ihnen ein weiteres aufenthaltsrechtliches Bleiberecht grundsätzlich nicht eröffnet ist.
Nichts anderes ergibt sich aus Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie). Die dort normierte Wahrung des Familienverbandes betrifft, wie die Definition des Begriffs "Familienangehörige" in Art. 2 j) der Qualifikationsrichtlinie zeigt, nur solche Familienmitglieder, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sich die Person befindet, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Ein Anspruch auf Familienzusammenführung für weiterhin außerhalb des Bundesgebietes lebende Familienangehörige ergibt sich danach gerade nicht.
Ein Anspruch aus § 36 Abs. 2 AufenthG ist mangels glaubhaft gemachter außergewöhnlicher Härte nicht ersichtlich. [...]