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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 08.04.2014 - 5 A 2213/13 (ASYLMAGAZIN 10/2014, S. 357 f.) - asyl.net: M22221
https://www.asyl.net/rsdb/M22221
Leitsatz:

Eine Überschreitung der Bagatellgrenze des § 12 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG um 25 Tagessätze ist nicht mehr geringfügig im Sinne von § 12 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, Geldstrafe, Straftat, Bagatellgrenze, Verwertungsverbot, Tilgungsfrist, Tilgungsreife, Geringfügigkeit,
Normen: StAG § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, StAG § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3, StAG § 10, BZRG § 46 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, BZRG § 47 Abs. 3 S. 1, BZRG § 47 Abs. 1, BZRG § 36 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Einem Einbürgerungsanspruch des Klägers gemäß § 10 Abs. 1 StAG steht die Voraussetzung der Straffreiheit nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG entgegen, da er in den Jahren 2007 bis 2009 wegen dreier Straftaten zu Geldstrafen von jeweils 40, 30 und 45 Tagessätzen verurteilt worden ist (aktuelle Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 24. März 2014).

Diese Geldstrafen unterfallen auch nicht dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 Bundeszentralregistergesetz - BZRG -, das auch für Einbürgerungsverfahren gilt (vgl. Berlit, in: Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, Stand: Juli 2012, § 10, Rn. 302 m.w.N.). Insoweit ist nämlich die Tilgungsreife noch nicht eingetreten. Wegen der letzten Verurteilung des Klägers am 3. August 2009 sind die drei Verurteilungen gemäß §§ 46 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, 47 Abs. 3 Satz 1, 47 Abs. 1, 36 Abs. 1 Satz 1 BZRG erst Anfang August 2014 zu tilgen.

Die genannten Verurteilungen bleiben auch nicht gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG bei der Entscheidung über die Einbürgerung außer Betracht, weil nach dieser Vorschrift nur Verurteilungen zu Geldstrafen bis zu 90 Tagessätzen unberücksichtigt bleiben und gemäß § 12a Abs. 1 Satz 2 StAG mehrere Verurteilungen zusammen zu zählen sind. Die gegen den Kläger verhängten Geldstrafen belaufen sich auf insgesamt 115, also auf mehr als 90 Tagessätze.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte gemäß § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG seine Verurteilungen unberücksichtigt lässt. Nach dieser Vorschrift hat die Einbürgerungsbehörde im Einzelfall über die Berücksichtigung von Geldstrafen zu entscheiden, wenn die Summe der Strafen den Rahmen der obligatorischen Nichtberücksichtigung des § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG geringfügig übersteigt. Die Wertung des Beklagten, dass die gegen den Kläger verhängten Geldstrafen in Höhe von 115 Tagessätzen den Rahmen von höchstens 90 Tagessätzen mehr als geringfügig übersteigen und deshalb keine Einzelfallentscheidung über eine fakultative Nichtberücksichtigung zu treffen war, ist auch nach Auffassung des Senats rechtmäßig.

Das Tatbestandsmerkmal der Geringfügigkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt (Berlit, a.a.O., § 12a, Rn. 42 m.w.N.). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte dabei eine verbindliche Präzisierung durch eine Verwaltungsvorschrift erfolgen (BTDrucks 16/5065, S. 230), was bisher nicht erfolgt ist. Die Regelung in Nr. 12a 1.3 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Landes Hessen (insoweit gleichlautend die Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundes; jeweils abgedruckt bei Schuhen, in: Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, a.a.O.), wo es zum Begriff der geringfügigen Überschreitung in § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG heißt, diese könne nicht mehr angenommen werden, wenn die Höchstgrenze um mehr als 20 Tagessätze überstiegen werde, ist keine die Gerichte bindende, authentische Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs (Berlit, a.a.O., § 12a, Rn. 43).

Durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 20. März 2012 - 5 C 5/11 -, BVerwGE 142, 145), der sich der Senat anschließt, ist geklärt, dass jedenfalls eine Überschreitung der Bagatellgrenze um 1/3 nicht mehr als geringfügig im Sinne von § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG anzusehen ist (ebenso Bayerischer VGH, Beschluss vom 4. April 2011 - 5 C 11.474 -, juris; VG Köln, Urteil vom 10. Februar 2010 - 10 K 4788/08 -, NWVBl 2011, 29, und VG Darmstadt, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 5 K 1079/08.DA -, juris; a.A., allerdings ohne nachvollziehbare Begründung: Berlit, a.a.O., § 12a, Rn. 44, wonach die Annahme einer geringfügigen Überschreitung auch bei 180 Tagessätzen vom Wortlaut zwar nicht vorgegeben, mit ihm aber nicht unvereinbar sei).

Der Kläger bleibt mit seinen derzeit zu berücksichtigenden Verurteilungen zu Geldstrafen von insgesamt 115 Tagessätzen um lediglich 5 Tagessätze unter der Summe von 120 Tagessätzen, für die nach der genannten Rechtsprechung feststeht, dass es sich nicht um eine geringfügige Überschreitung der gesetzlichen Bagatellgrenze handelt. Rechtsprechung zu einer Überschreitung der Grenze des § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG um - wie im Falle des Klägers - ca. 27,5 % gibt es bisher - soweit ersichtlich - nicht.

Das Verwaltungsgericht hat sich daher richtigerweise unter Bezugnahme auf die bereits genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auf Entscheidungen zu anderen Normen gestützt, bei denen der Gesetzgeber ebenfalls den Begriff der Geringfügigkeit verwendet. So ist etwa in § 92 Abs. 2 Zivilprozessordung - ZPO - die Rede von geringfügig höheren Kosten. In der Rechtsprechung und der Literatur zu dieser Norm wird allgemein davon ausgegangen, dass die Geringfügigkeitsgrenze jedenfalls nicht höher als bei 10 % verlaufe (vgl. Herget, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 30. Auflage 2014, § 92 ZPO Rn. 10 m.w.N.). In § 18 Abs. 2 Baunutzungsverordnung - BauNVO - ist von geringfügigen Abweichungen und in § 19 Abs. 4 Satz 2 BauNVO von einem geringfügigen Ausmaß die Rede. Auch in der baurechtlichen Literatur zu diesen Vorschriften heißt es, eine Überschreitung von mehr als 10 % könne nicht mehr als geringfügig angesehen werden (Hartmann/Schilder, in Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, 2014, § 18 Rn. 17 und § 19 Rn. 65, jeweils m.w.N.). Angesichts dieser gefestigten Ansichten zum Begriff der Geringfügigkeit im deutschen Rechtssystem spricht vieles dafür, auch bei einer - vom Kläger verwirklichten - Überschreitung einer Bagatellgrenze um mehr als 27 % nicht mehr von Geringfügigkeit auszugehen.

Die Annahme, die Überschreitung einer Grenze um mehr als 27 %, sei als geringfügig anzusehen, widerspräche auch dem allgemeinen Sprachempfinden, das diesen Begriff gleichsetzt mit Begriffen wie "klein" oder "unerheblich". In einem Internet-Wörterbuch (http://www.duden.de/node/655301/revisions/1324816/view) werden zur Erklärung des Begriffs "geringfügig" Begriffe wie "unbedeutend, nicht ins Gewicht fallend, belanglos" verwendet, was ebenfalls dafür spricht, jedenfalls eine Überschreitung von mehr als einem Viertel als nicht mehr geringfügig zu werten. Vielmehr spricht vieles dafür, die Grenze eher im einstelligen Prozentbereich zu ziehen, was hier allerdings dahin gestellt bleiben kann.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine Einbürgerung im Ermessenswege gemäß § 8 Abs. 1 StAG. Für die Voraussetzung der Straffreiheit in § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG und die davon zu machenden Ausnahmen gilt nämlich das bereits zu den Vorschriften der §§ 10, 12a StAG Ausgeführte gleichermaßen (vgl. Marx, in: Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, a.a.O., § 8 Rn. 91 ff.), weswegen die gegen den Kläger verhängten Geldstrafen auch einer Ermessenseinbürgerung entgegen stehen. Dass die Einbürgerung des Klägers zum jetzigen Zeitpunkt gemäß § 8 Abs. 2 StAG im öffentlichen Interesse wäre oder zur Vermeidung einer besonderen Härte angezeigt sein könnte, trägt der Kläger selbst nicht vor und solche Umstände sind auch nicht ersichtlich. [...]