Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden fallen unter die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zwar befugt sind, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, diese Befugnis aber im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeübt werden muss, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, auch das Familienleben zu fördern, prüfen müssen und das Ziel dieser Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit nicht beeinträchtigen dürfen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, unter Beachtung dieser Anforderungen erlassen wurden.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
43 Was ferner Art. 20 AEUV anbelangt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Lage eines Unionsbürgers, der – wie im Ausgangsverfahren die Kinder, die die finnische Staatsangehörigkeit besitzen – vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden kann, d. h. einer Situation, die keine Anknüpfungspunkte an eine der vom Unionsrecht erfassten Situationen aufweist (vgl. Urteile Ruiz Zambrano, vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 46, und Dereci u. a., Randnr. 61).
44 Da der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, genießen die Kinder von Frau S. und Frau L. aus erster Ehe als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats nämlich den Unionsbürgerstatus gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV und können sich daher auch gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen (vgl. Urteile McCarthy, Randnr. 48, und Dereci u. a., Randnr. 63).
45 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen, d. h. auch Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 42).
46 Was schließlich das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen in dem Mitgliedstaat betrifft, in dem sich seine minderjährigen Kinder aufhalten, die diesem Mitgliedstaat angehören, denen er Unterhalt gewährt und für die er gemeinsam mit seiner Ehefrau das Sorgerecht ausübt, hätte die Aufenthaltsverweigerung nach Auffassung des Gerichtshofs zur Folge, dass sich diese Kinder, die Unionsbürger sind, gezwungen sähen, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten, und dass es diesen Unionsbürgern de facto unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnrn. 43 und 44).
47 Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezog sich in den Rechtssachen, in denen die Urteile Ruiz Zambrano und Dereci u. a. ergangen sind, auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sah, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehörte, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.
48 Diesem Kriterium kommt somit insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde (Urteil Dereci u. a., Randnr. 67).
49 Im vorliegenden Fall ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob den betroffenen Unionsbürgern unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren durch die Ablehnung der auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellten Aufenthaltsanträge der Kernbestand der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.
50 Bei dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die Mütter der Unionsbürger über unbefristete Aufenthaltstitel in dem betreffenden Mitgliedstaat verfügen, so dass weder für sie noch für die Unionsbürger, denen sie Unterhalt gewähren, eine rechtliche Verpflichtung besteht, das Gebiet dieses Mitgliedstaats und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.
51 Für die Prüfung, ob es den betroffenen Unionsbürgern de facto unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, sind auch die Frage nach dem Sorgerecht für die Kinder der Zusammenführenden und der Umstand, dass diese Kinder Patchworkfamilien angehören, von Bedeutung. Da Frau S. und Frau L. das alleinige Sorgerecht für die betroffenen minderjährigen Unionsbürger ausüben, hätte einerseits eine von ihnen getroffene Entscheidung, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, dem diese Kinder angehören, zur Folge, dass diesen Unionsbürgern jeglicher Kontakt zu ihren leiblichen Vätern – falls ein solcher Kontakt bisher bestanden hat – genommen würde. Andererseits würde eine Entscheidung, in diesem Mitgliedstaat zu bleiben, um die etwaige Beziehung der minderjährigen Unionsbürger zu ihren leiblichen Vätern zu erhalten, dazu führen, die Beziehung zwischen den anderen Kindern, die Drittstaatsangehörige sind, und deren leiblichen Vätern zu beeinträchtigen.
52 Insoweit rechtfertigt jedoch die bloße Tatsache, dass es aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Angehörige einer Familie, die aus Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger besteht, zusammen mit diesem im Gebiet der Union in dem Mitgliedstaat, dem der Unionsbürger angehört, aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn ein solches Aufenthaltsrecht nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Dereci u. a., Randnr. 68).
53 Im Rahmen der in Randnr. 49 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, hat dieses nämlich alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen, um festzustellen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, tatsächlich dazu führen können, die Unionsbürgerschaft der betroffenen Unionsbürger ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben.
54 Ob die Person, für die auf der Grundlage der Familienzusammenführung ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, mit dem Zusammenführenden und den übrigen Familienangehörigen in einem Haushalt zusammenlebt, ist für diese Beurteilung nicht entscheidend, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Familienangehörige, für die die Zusammenführung beantragt wird, unabhängig vom Rest der Familie in den betreffenden Mitgliedstaat einreisen.
55 Entgegen dem Vorbringen der deutschen und der italienischen Regierung ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die im Urteil Ruiz Zambrano aufgestellten Grundsätze zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen anwendbar sind, sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch nicht ergibt, dass ihre Anwendung auf Sachverhalte beschränkt wäre, in denen zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, und dem Unionsbürger, der ein minderjähriges Kind ist, eine biologische Beziehung besteht, aus der sich möglicherweise das Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergäbe.
56 Dagegen sind sowohl das Daueraufenthaltsrecht der Mütter der betroffenen minderjährigen Unionsbürger als auch der Umstand, dass die Drittstaatsangehörigen, für die ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, nicht die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für diese Unionsbürger ausüben, bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die Verweigerung des Aufenthalts es diesen Unionsbürgern unmöglich macht, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen. Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht verweigert wird, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, da diese Abhängigkeit dazu führen würde, dass der Unionsbürger sich als Folge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, dessen Staatsangehöriger er ist, sondern auch das Gebiet der Union als Ganzes (vgl. Urteile Ruiz Zambrano, Randnrn. 43 und 45, und Dereci u. a., Randnrn. 65 bis 67).
57 Vorbehaltlich der Überprüfung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, scheint sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen zu ergeben, dass es in den Ausgangsverfahren an einer solchen Abhängigkeit fehlen könnte.
58 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm sein Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
59 Sollte das vorlegende Gericht zu der Ansicht gelangen, dass sich unter den in den bei ihm anhängigen Ausgangsverfahren gegebenen Umständen eine solche Verwehrung nicht aus den Entscheidungen ergibt, mit denen die Erteilung der dort in Rede stehenden Aufenthaltstitel abgelehnt wurden, bleibt noch offen, ob Herrn O. und Herrn M. auf anderen Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf. Auf diese Frage ist im Rahmen der Bestimmungen über den Schutz der Grundrechte und nach Maßgabe ihrer jeweiligen Anwendbarkeit einzugehen (vgl. Urteil Dereci u.a., Randnr. 69).
60 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof nach seiner Rechtsprechung veranlasst sehen kann, Vorschriften des Unionsrechts zu berücksichtigen, auf die das vorlegende Gericht bei der Darlegung seiner Frage nicht Bezug genommen hat und die bei der Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl. u. a. Urteil vom 26. April 2007, Alevizos, C-392/05, Slg. 2007, I-3505, Randnr. 64).
Zur Richtlinie 2003/86
61 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinen Vorabentscheidungsersuchen auf die Richtlinie 2003/86 Bezug genommen, ohne jedoch eine Frage zu dieser Richtlinie zu stellen.
62 Ebenso haben die finnische, zum Teil die italienische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission geltend gemacht, dass das Aufenthaltsrecht von Herrn O. und Herrn M. und die Situation ihrer Familien im Licht der Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 geprüft worden seien bzw. geprüft werden müssten.
63 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Ziel dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige ist, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.
64 Die in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie enthaltene Definition der Familienangehörigen erfasst den Ehegatten des Zusammenführenden, die gemeinsamen Kinder des Zusammenführenden und seines Ehegatten sowie die minderjährigen Kinder des Zusammenführenden und die seines Ehegatten, wenn der Zusammenführende bzw. sein Ehegatte das Sorgerecht für seine Kinder besitzt und für deren Unterhalt aufkommt.
65 Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber den Kreis der Kernfamilie, auf die im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 Bezug genommen wird, weit gezogen hat.
66 Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 findet diese Richtlinie jedoch auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung.
67 In Randnr. 48 des Urteils Dereci u.a. hat der Gerichtshof entschieden, dass, da es im Rahmen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Unionsbürger waren, die sich in einem Mitgliedstaat aufhielten, während ihre Familienangehörigen, die Drittstaatsangehörige waren, beabsichtigten, in diesen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, um die Familiengemeinschaft mit den Unionsbürgern aufrechtzuerhalten, die Richtlinie 2003/86 auf diese Drittstaatsangehörigen nicht anwendbar war.
68 Im Unterschied zu den Sachverhalten in den Rechtssachen, in denen das Urteil Dereci u.a. ergangen ist, sind Frau S. und Frau L. jedoch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten und die die Familienzusammenführung in Anspruch nehmen wollen. Sie sind daher als "Zusammenführende" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 anzusehen. Im Übrigen sind die gemeinsamen Kinder der Zusammenführenden und ihrer Ehegatten selbst Drittstaatsangehörige und genießen daher nicht den durch Art. 20 AEUV verliehenen Unionsbürgerstatus.
69 Unter Berücksichtigung des mit der Richtlinie 2003/86 verfolgten Ziels der Begünstigung der Familienzusammenführung (Urteil vom 4. März 2010, Chakroun, C-578/08, Slg. 2010, I-1839, Randnr. 43) und des Schutzes, der Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, durch sie gewährt werden soll, kann ihre Anwendung nicht allein deshalb ausgeschlossen werden, weil ein Elternteil eines Minderjährigen, der Drittstaatsangehöriger ist, auch Elternteil eines aus einer ersten Ehe hervorgegangenen Unionsbürgers ist.
70 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen. Er schreibt ihnen in den in dieser Richtlinie festgelegten Fällen vor, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Wertungsspielraum Gebrauch machen könnten (vgl. Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Randnr. 60).
71 Diese Bestimmung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Einhaltung der u.a. in Kapitel IV der Richtlinie 2003/86 genannten Bedingungen. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist Teil dieser Bedingungen und gestattet den Mitgliedstaaten, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. In dieser Vorschrift heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit beurteilen und die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen können (Urteil Chakroun, Randnr. 42).
72 In Bezug auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der nach dieser Richtlinie geforderten Einzelfallprüfung der Anträge auf Familienzusammenführung grundsätzlich die Einkünfte des Zusammenführenden sind und nicht die Einkünfte des Drittstaatsangehörigen, für den auf der Grundlage der Familienzusammenführung ein Aufenthaltsrecht beantragt wird (vgl. Urteil Chakroun, Randnrn. 46 und 47).
73 Was diese Einkünfte anbelangt, erlaubt es die Wendung "Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen" in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 einem Mitgliedstaat außerdem nicht, einem Zusammenführenden die Familienzusammenführung zu verweigern, der nachweist, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte eine besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts oder einkommensunterstützende Maßnahmen in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteil Chakroun, Randnr. 52).
74 Da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass die durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 verliehene Befugnis eng auszulegen ist. Der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum darf daher von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel der Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde (Urteil Chakroun, Randnr. 43).
75 Schließlich steht die Richtlinie 2003/86, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die in der Charta niedergelegten Grundsätze.
76 In Art. 7 der Charta, der Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, wird das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Diese Vorschrift der Charta ist zudem in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält (vgl. Urteile Parlament/Rat, Randnr. 58, und vom 23. Dezember 2009, Deti?ek, C-403/09 PPU, Slg. 2009, I-12193, Randnr. 54).
77 Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 darf nicht so ausgelegt und angewandt werden, dass damit gegen die in den genannten Bestimmungen der Charta niedergelegten Grundrechte verstoßen wird.
78 Die Mitgliedstaaten haben nämlich nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (vgl. Urteile Parlament/Rat, Randnr. 105, und Deti?ek, Randnr. 34).
79 Zwar lassen sich die Art. 7 und 24 der Charta, die die Bedeutung des Familienlebens für Kinder unterstreichen, nicht dahin auslegen, dass den Mitgliedstaaten der Ermessensspielraum genommen würde, über den sie bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, Randnr. 59).
80 Jedoch müssen bei einer solchen Prüfung und bei der Feststellung, ob u.a. die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 aufgestellten Bedingungen erfüllt sind, die Bestimmungen dieser Richtlinie im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die fraglichen Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen.
81 Die zuständigen nationalen Behörden müssen bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/86 und bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten. [...]