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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01.12.2010 - 3 S 70.10 - asyl.net: M18140
https://www.asyl.net/rsdb/M18140
Leitsatz:

Die Rechtmäßigkeit einer Anordnung bei der Botschaft des vermutlichen Heimatlandes nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zur Klärung der Identität vorzusprechen, setzt nicht voraus, dass bei dem Tatbestandsmerkmal der vermutlichen Staatsangehörigkeit eine Rangfolge nach Wahrscheinlichkeitsmaßstäben eingehalten wird.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: zwangsweise Vorführung bei Auslandsvertretung, vorläufiger Rechtsschutz, Senegal, Gambia, Guinea-Bissau, Sofortvollzug, Identitätsfeststellung, Passbeschaffung, Sprachanalyse, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, vermutlich, Mitwirkungspflicht, Verhältnismäßigkeit,
Normen: AufenthG § 82 Abs. 4 S. 1, VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 48 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 82, GG Art. 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

a) Die auf § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gestützte Anordnung, der Antragsteller habe bei der Botschaft der Republik Senegal zur Klärung seiner Identität und zur Erlangung eines Heimreisedokuments persönlich vorzusprechen, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Nach dieser Vorschrift kann angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der Vertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich erscheint, soweit es zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen erforderlich ist.

Der Antragsteller besitzt im Sinne von § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vermutlich die Staatsangehörigkeit der Republik Senegal.

Er hat bei seiner Befragung vor der Ausländerbehörde des Antragsgegners angegeben, seine Muttersprache sei "Fullah". Diese Sprache wird nach den unbestrittenen Angaben des Antragsgegners in der an Guinea-Bissau, dem angeblichen Herkunftsland des Antragstellers, angrenzenden Republik Senegal gesprochen. Auch nach dem von dem Antragsgegner zwischenzeitlich eingeholten Sprachgutachten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2010 liegen nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine Herkunft des Antragstellers aus dem Senegal vor: So verwendet er Lehnwörter aus dem Französischen, die im Senegal häufig gebraucht werden. Portugiesische Lehnwörter finden sich dagegen nach den Feststellungen des Gutachtens in seinem Sprachgebrauch nicht, obwohl portugiesisch in Guinea-Bissau Amtssprache ist. Dies stützt die Annahme, dass der Antragsteller nicht aus dem von ihm genannten Heimatstaat stammt. Davon geht auch das Gutachten aus. Es hält zwar aus linguistischen Gründen eine Herkunft des Antragstellers aus Gambia, das nördlich an den Senegal angrenzt, für sehr wahrscheinlich, schließt aber - anders als für Guinea-Bissau - eine Herkunft des Antragstellers aus dem Senegal nicht aus. Für Letztere spricht weiter, dass der Antragsteller ausweislich des Gutachtens eine gemischte Variante des Fula Dialektes von "Fuuta Tooro" und "Fuuta Jaloo" verwendet, wobei das Hauptsprachgebiet des Dialektes "Fuuta Toro" im Senegal (und in Mauretanien) liegt.

Nach alledem bestehen greifbare, nachvollziehbare und damit auch hinreichende Anhaltspunkte (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Oktober 2006 - OVG 11 S 71.06/OVG 11 M 42.06 -, Beschlussabdruck S. 3; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Oktober 2009, Rn. 68 zu § 82) für die Annahme, der Antragsteller besitze vermutlich die senegalesische Staatsangehörigkeit. Eine letzte Gewissheit ist insoweit nicht erforderlich. Der Antragsgegner ist insbesondere nicht verpflichtet, zunächst Passbeschaffungsmaßnahmen bei einer gambischen Auslandsvertretung einzuleiten. Im Falle ungeklärter Identität hat er keine Rangfolge nach Wahrscheinlichkeitsmaßstäben einzuhalten, auch nicht, wenn er ein Sprachgutachten eingeholt hat, aus dem sich ergibt, der Ausländer stamme mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus einem bestimmten Staat. Ein derart enges Verständnis des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lässt sich schon nicht mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbaren. Der Begriff "vermutlich" wird verwendet, wenn es gerade um einen ungewissen - und nicht um einen mit der im Verhältnis höchsten Wahrscheinlichkeit gegebenen - Sachverhalt geht (vgl. Duden, Bedeutungswörterbuch, 3. Aufl., 2002). Es reicht nach dem Wortlaut des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG daher aus, dass die Staatsangehörigkeit in Betracht kommt (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 23. November 2009 - 4 MB 111/09 -, juris, Rn. 6). Sinn und Zweck der Vorschrift wiederum gehen dahin, der Ausländerbehörde die Möglichkeit zu geben, die Pflicht des Ausländers zur Mitwirkung an der Klärung seiner Staatsangehörigkeit sowie der Beschaffung nötiger Heimreisedokumente zu konkretisieren und erforderlichenfalls zwangsweise (vgl. § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG) durchzusetzen. Ein ohne Identitätspapiere in das Bundesgebiet eingereister Antragsteller, der der Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG unterliegt, ist verpflichtet, an der Beschaffung seiner Identitätspapiere mitzuwirken (§ 48 Abs. 3 Satz 1 i.V.m § 82 AufenthG). Die Anordnung des persönlichen Erscheinens vor der Vertretung eines vermutlichen Heimatlandes soll dazu dienen, den insoweit maßgeblichen Sachverhalt schnell und zuverlässig zu klären (Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 65 zu § 82). Bei Einhaltung einer Rangfolge träte demgegenüber ein erheblicher Verzug bei der Beschaffung von Personaldokumenten ein, da die Ausländerbehörde vor Inanspruchnahme einer "nachrangigen" Auslandsvertretung zunächst darlegen und ggf. belegen müsste, dass alle in Betracht zu ziehenden Maßnahmen hinsichtlich der "vorrangigen" Auslandsvertretung ausgeschöpft sind. Im Übrigen spricht gegen die Pflicht zur Einhaltung einer Rangfolge, dass es bei der Abstufung von Wahrscheinlichkeiten zu erheblichen praktischen Problemen kommen kann, die selbst durch Einholung eines Gutachtens nicht auszuschließen sind, wenn es etwa zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt oder ein weiteres (Partei-)Gutachten einen anderen Schluss nahelegt. Schließlich trägt das persönliche Erscheinen bei der Auslandsvertretung zur Klärung der Staatsangehörigkeit selbst dann bei, wenn sich im Verlaufe jenes Verfahrens herausstellt, dass der Ausländer die betreffende Staatsangehörigkeit nicht besitzt (vgl. OVG Schleswig, a.a.O., Rn. 6 f.).

Der mit der Vorspracheanordnung verbundene geringfügige Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ist im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Klärung der Identität des Antragstellers, an der er gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 82 AufenthG mitzuwirken verpflichtet ist, gerechtfertigt.

b) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides hat der Antragsgegner ausreichend begründet (vgl. § 80 Abs. 3 VwGO). Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung liegt aus den im Bescheid vom 22. Oktober 2009 genannten Gründen vor. Dass der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 25. Mai 2010 bekundet hat, er werde mit Rücksicht auf das eingeholte Sprachgutachten zunächst die Passbeschaffung von Amts wegen hinsichtlich einer gambischen Staatsangehörigkeit betreiben, steht dem nicht entgegen. Zum einen bringt diese Bekundung schon als solche nicht zum Ausdruck, dass der Antragsgegner entsprechende zeitnahe Schritte hinsichtlich der senegalesischen Staatsangehörigkeit unterlassen wird. Zum anderen hat er mit Schriftsatz vom 1. Juli 2010 erklärt, dass eine Vorführung des Antragstellers bei der senegalesischen Botschaft in naher Zukunft erforderlich sein werde, mithin der sofortigen Vollziehbarkeit der Anordnung seines dortigen Erscheinens nicht entgegensteht, dass der Antragsgegner keine Absicht hätte, den Antragsteller zeitnah dort vorzuführen. [...]