Von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann nicht nach Ermessen abgesehen werden. Vielmehr stellt es eine gerichtlich voll überprüfbare gebundene Entscheidung dar, ob ein Ausnahmefall von der Regel vorliegt.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 AufenthG ohne Verstoß gegen Bundesrecht verneint. [...]
1. Die Sicherung des Lebensunterhalts ist in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als allgemeine Regelvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels normiert. Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Sicherung des Lebensunterhalts bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen ist (vgl. hierzu BTDrucks 15/420 S. 70 und Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - Rn. 21 - Buchholz 402.242 § 2 AufenthG Nr. 1 - zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Diese bereits im Ausländergesetz 1990 getroffene Wertung wurde durch die Neuregelung des Aufenthaltsrechts im Zuwanderungsgesetz noch verstärkt, indem die Sicherung des Lebensunterhalts nunmehr nicht nur bei der Erteilung von Titeln zum Daueraufenthalt, sondern für alle Aufenthaltstitel von einem Regelversagungsgrund (vgl. § 7 Abs. 2 AuslG 1990) zu einer Regelerteilungsvoraussetzung heraufgestuft worden ist (vgl. § 5 Abs. 1 AufenthG). Ausnahmen von der Regel sind daher grundsätzlich eng auszulegen (vgl. Urteil vom 28. Oktober 2008 - BVerwG 1 C 34.07 - Rn. 16 - NVwZ 2009, 246 zu Ausnahmen von der Unterhaltssicherung bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 AufenthG).
Die in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG getroffene Regelung steht im Einklang mit der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl EG Nr. L 251 S. 12 vom 3. Oktober 2003) - sog. Familienzusammenführungsrichtlinie -, die es in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c den Mitgliedstaaten erlaubt, den Nachzug von Familienangehörigen von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig zu machen und die Erfüllung dieser Voraussetzung auch bei weiteren aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen zu verlangen (vgl. Art. 16 der Richtlinie).
Wie der Senat mit Urteil vom 26. August 2008 (BVerwG 1 C 32.07 - a.a.O. Rn. 27) entschieden hat, liegt ein Ausnahmefall von der regelmäßig zu erfüllenden Voraussetzung der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter folgenden Voraussetzungen vor: Es müssen entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten sein, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist.
Ob danach ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Der Ausländerbehörde steht insoweit kein Einschätzungsspielraum zu. Der Gesetzgeber hat mit § 5 Abs. 1 AufenthG bestimmte Erteilungsvoraussetzungen auf der Tatbestandsseite gleichsam vor die Kammer gezogen und bestimmt, dass sie in der Regel vorliegen müssen unabhängig davon, ob auf die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - wie hier im Fall des Ehegattennachzugs nach § 30 Abs. 1 AufenthG - ein Rechtsanspruch besteht oder nach Ermessen zu entscheiden ist. Daneben enthält § 5 Abs. 3 AufenthG bei der Unterhaltssicherung für bestimmte Aufenthaltstitel abweichende Regelungen, nach denen von dieser Regelerteilungsvoraussetzung abzusehen ist (Satz 1) bzw. abgesehen werden kann (Satz 2). Außerdem kann nach § 30 Abs. 3 AufenthG bei der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug von der Sicherung des Lebensunterhalts abgesehen werden. Diese Regelungen wären überflüssig, wenn der Ausländerbehörde bereits nach § 5 Abs. 1 AufenthG bei der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, ein Entscheidungsspielraum zustände. Zugleich würde die gesetzgeberische Wertung unterlaufen, in Fällen des Ehegattennachzugs bei fehlender Unterhaltssicherung Ermessen nur bei der Verlängerung, nicht aber bei der Ersterteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu eröffnen (vgl. BTDrucks 15/420 S. 82).
Ist der Lebensunterhalt nicht gesichert und liegt ein Regelfall vor, steht der Erteilung eines Aufenthaltstitels § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entgegen und muss die Ausländerbehörde den Antrag - vorbehaltlich einer gesetzlichen Sonderregelung - zwingend ablehnen. Liegt ein Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, kann dem Ausländer jedenfalls bei einem gesetzlichen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie hier im Fall des Ehegattennachzugs nach § 30 Abs. 1 AufenthG - die fehlende Unterhaltssicherung nicht entgegengehalten werden. Die Rechtsprechung des Senats zu § 7 Abs. 2 AuslG 1990, wonach im Falle einer Ausnahme vom Regelfall Ermessen eröffnet war (vgl. Urteil vom 29. Juli 1993 - BVerwG 1 C 25.93 - BVerwGE 94, 35 44 f.>), lässt sich auf § 5 Abs. 1 AufenthG nicht übertragen. Denn die Annahme eines Ausnahmefalles hatte bei den Regelversagungsgründen des § 7 Abs. 2 AuslG 1990 zur Folge, dass die Ermessensregelung des § 7 Abs. 1 AuslG 1990 Anwendung fand. Abweichend hiervon normiert § 5 Abs. 1 AufenthG die Unterhaltssicherung als Regelerteilungsvoraussetzung und enthält keine § 7 Abs. 1 AuslG 1990 vergleichbare allgemeine Ermessensregelung. Das Vorliegen eines Ausnahmefalls nach § 5 Abs. 1 AufenthG führt daher nicht dazu, dass bei einem gesetzlichen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Ermessen zu entscheiden ist.
2. Das Berufungsgericht hat im Entscheidungsfall zutreffend eine Ausnahme vom Regelerfordernis der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 AufenthG verneint.
Der Schutz von Ehe und Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebieten nicht die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr kann der Klägerin, ihrem Ehemann und dem minderjährigen Sohn die Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei zugemutet werden.
Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1 42>). Art. 6 Abs. 1 GG begründet grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfGE 76, 1 49 ff.>; Beschluss vom 11. Mai 2007 - 2 BvR 2483/06 - InfAuslR 2007, 336 337>). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es den anderen Familienangehörigen zumutbar ist, die Klägerin in ihr Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist - etwa weil ihm dort flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht -, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81 95>). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann (vgl. Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - a.a.O., Rn. 27). Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist. Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist (vgl. EGMR, Urteil vom 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 - InfAuslR 1996, 245, Gül; Urteil vom 28. November 1996 - 73/1995/579/665 - InfAuslR 1997, 141, Ahmut) oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Dezember 2001 - 31465/96 - InfAuslR 2002, 334, Sen).
Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob der Klägerin die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei zumutbar ist, mit Recht darauf abgestellt, dass sie erst im Alter von 39 Jahren nach Deutschland gekommen ist, den weit überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei verbracht hat und sich hier seit 1995 nach illegaler Einreise allein auf Grund des - erfolglosen - Betreibens eines Asylverfahrens aufgehalten hat. Auch nach der erneuten Einreise mit ihrem zunächst auf drei Monate befristeten Visum konnte sie kein schützenswertes Vertrauen auf einen Daueraufenthalt in Deutschland entwickeln, da ihr Ehemann schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Eheleute und den minderjährigen Sohn imstande war. Das Berufungsgericht hat dem Interesse der Klägerin am Verbleib in Deutschland mit Recht das gewichtige Interesse der öffentlichen Hand an der Vermeidung einer Belastung der öffentlichen Haushalte gegenübergestellt, dem aufgrund der voraussichtlichen Dauerhaftigkeit der Angewiesenheit der Klägerin und ihres Ehemannes auf Unterstützung aus öffentlichen Mitteln entscheidendes Gewicht zukommt. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Klägerin eine Rückkehr in die Türkei zumutbar ist. Entsprechendes gilt für die Wertung des Gerichts, auch dem Ehemann der Klägerin sei trotz Besitzes einer Niederlassungserlaubnis zuzumuten, ihr in die Türkei zu folgen. Dabei konnte mit Recht darauf abgestellt werden, dass auch der Ehemann den überwiegenden Teil seines Lebens in der Türkei verbracht hat und die geltend gemachten Unterstützungsleistungen wegen einer Gehbehinderung nach den gerichtlichen Feststellungen auch in der Türkei erbracht werden können. Auch dem zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung zwölfeinhalb Jahre alten Sohn der Klägerin ist trotz seines Aufwachsens in Deutschland letztlich eine Rückkehr mit der Klägerin in die Türkei oder ein Verbleib in Deutschland bei seinem Vater oder seiner Großfamilie ohne die Klägerin zuzumuten.
Der Schutz des Privatlebens der Klägerin im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebieten ebenfalls nicht die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis. Eine schützenswerte Verwurzelung der Klägerin in Deutschland hat das Berufungsgericht nicht feststellen können. [...]