Erstmals seit der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten durch das sogenannte Asylpaket II ab März 2016 hat ein Gericht Deutschland dazu verpflichtet, den Angehörigen eines in Deutschland subsidiär Schutzberechtigten Visa zum Familiennachzug zu erteilen. Das VG Berlin hält den gesetzlichen Nachzugsausschluss in seinem Urteil vom 07.11.2017 (36 K 92.17 V - asyl.net: M25744) zwar für verfassungskonform, erachtet aber aufgrund der Sondersituation des betroffenen unbegleiteten Minderjährigen in diesem Einzelfall die Aufnahme der Familie nach der Härtefallregelung des § 22 AufenthG für geboten.
Durch das „Asylpaket II“ wurde ab März 2016 der Familiennachzug zu in Deutschland anerkannten subsidiär Schutzberechtigten pauschal bis März 2018 ausgesetzt (§ 104 Abs. 13 AufenthG, zu Einzelheiten siehe familie.asyl.net/ausserhalb-europas/begriffsbestimmungen/). Die Regelung wurde vielfach als unvereinbar mit Grund- und Menschenrechten kritisiert (siehe etwa Beitrag von Helene Heuser im Asylmagazin 4/2017).
Die Bundesregierung betonte, dass trotz der Aussetzung die Härtefallregelung des § 22 AufenthG angewendet werden könne, um so Sonderfällen Rechnung zu tragen. Die als zu restriktiv bemängelte Anwendung dieser Norm führte bislang jedoch lediglich in 66 Fällen zur Erteilung von Visa zum Familiennachzug. Dies ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung von Anfang Dezember auf eine Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke (Die Linke, siehe Pressemitteilung vom 11.12.2017).
Als Hintergrundinformation für Anträge auf humanitäre Aufnahme nach der Härtefallregelung des § 22 AufenthG wird von der Beratungsstelle BBZ/KommMit Berlin und dem Informationsverbund eine Arbeitshilfe „Aufnahme aus dem Ausland“ zur Verfügung gestellt.
Die Auswirkungen der Aussetzung sind inzwischen weitaus größer als ursprünglich von der Regierung angekündigt, da mit der Gesetzesänderung auch eine Änderung der Entscheidungspraxis des BAMF einherging, Asylsuchenden aus Syrien häufig nur noch subsidiären Schutz anstatt Flüchtlingsschutz zu gewähren. Diese vielfach kritisierte Praxis führte dazu, dass inzwischen ein Großteil der Schutzsuchenden aus Syrien vom Ausschluss des Familiennachzugs betroffen ist und zahlreiche Klagen erhoben wurden, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingefordert wird. Diese sogenannten Upgrade-Klagen beschäftigen weiterhin alle Ebenen der Verwaltungsgerichtsbarkeit (siehe dazu u.a. asyl.net Meldung vom 24.2.2017).
Auch im vorliegenden Fall ist die "Upgrade-Klage" des nach Deutschland geflohenen unbegleiteten Minderjährigen noch anhängig. Ihm war vom BAMF lediglich der subsidiäre Schutz zuerkannt worden, seine auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage war beim VG Berlin erfolgreich, doch das BAMF ging hiergegen in die Berufung und das OVG Berlin-Brandenburg hat darüber noch nicht entschieden.
Trotz der noch nicht rechtskräftigen Anerkennung als Flüchtling und der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten beantragten die Eltern und Geschwister des Betroffenen durch seinen Vormund Visa zur Familienzusammenführung. Als die Behörden wegen der gesetzlichen Aussetzung nicht reagierten, erhob die Anwältin der Betroffenen beim VG Berlin eine Untätigkeitsklage. Der gleichzeitig eingelegte Eilrechtsschutzantrag blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos. Nunmehr entschied das VG Berlin in der Hauptsache, dass den sich in Damaskus aufhaltenden Angehörigen des inzwischen 16 Jahre alten unbegleiteten Minderjährigen Visa zur Einreise nach Deutschland erteilt werden müssen. Der Fall wird vom Verein JUMEN unterstützt, der sich gegen die Aussetzung des Familiennachzugs einsetzt (siehe Projektvorstellung im Asylmagazin 4/2017 und auf lto.de).
In der Entscheidung befasst sich das VG zunächst mit dem Verfahrensrecht. Eine Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO kann nur erhoben werden, wenn die Vornahme eines Verwaltungsakts beantragt wurde und seitdem drei Monate verstrichen sind. In der Praxis verlangen deutsche Auslandsvertretungen für die Visumsbeantragung allerdings die persönliche Vorsprache, wofür aber Angehörigen von subsidiär Schutzberechtigten keine Termine vergeben werden. Das VG Berlin stellte fest, dass die persönliche Beantragung jedenfalls in diesen Fällen keine Voraussetzung für die Untätigkeitsklage sein kann und betonte unter Bezug auf einen Beschluss des VG vom 28.6.2016 (4 K 135.16 V - asyl.net: M24137, Asylmagazin 4/2017), dass die persönliche Antragstellung gesetzlich nicht ausdrücklich gefordert wird.
Sodann befasste sich das VG Berlin mit der Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG selbst, wonach für einen Zeitraum von zwei Jahren der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ab März 2016 ausgesetzt wurde. Es sieht die Bestimmung als mit EU-Recht und insbesondere der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar an. Auch kann es keinen Verstoß der Norm gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG im Vergleich zu anerkannten Flüchtlingen erkennen. Der unterschiedliche Schutzstatus rechtfertige die unterschiedliche Behandlung. Schließlich prüfte das VG die Aussetzung in Bezug auf den Schutz der Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und des Kindeswohls nach der UN-Kinderrechtskonvention und kommt zu dem Ergebnis, dass sie grundsätzlich einer verfassungsrechtlichen Prüfung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten standhält. Durch die Anwendung von § 22 AufenthG könne Sonderfällen Rechnung getragen werden, die eine Familienzusammenführung erfordern.
Dabei ist laut VG insbesondere auch die Situation der in Deutschland als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Person zu berücksichtigen. Dies hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur Aussetzung des Familiennachzugs kürzlich vorgegeben (Beschluss vom 11.10.2017, asyl.net: M25554 siehe auch Meldung auf asyl.net vom 17.10.2017).
Im vorliegenden Fall leidet der in Deutschland lebende unbegleitete Minderjährige laut psychologischer Atteste an einer Posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer Depression. Daher sieht das VG im vorliegenden Fall die Herstellung der Familieneinheit in Deutschland aus dringenden humanitären und völkerrechtlichen Gründen nach § 22 AufenthG als geboten an. Das Ermessen sei im konkreten Fall auf Null reduziert, da das Kindeswohl des 16-Jährigen erheblich und akut gefährdet sei.
AKTUALISIERUNG: Das Urteil des VG Berlin ist inzwischen rechtskräftig. Wie die Anwältin der Familie mitteilt, wurde die vom Auswärtigen Amt eingelegte Berufung vom Außenminister wieder zurückgezogen.
Link zur Entscheidung des VG Berlin, Urteil vom 07.11.2017 - 36 K 92.17 V - asyl.net: M25744
Stellungnahme von JUMEN zur Entscheidung des VG Berlin: jumen.org/news/
Arbeitshilfe zu § 22 AufenthG „Aufnahme aus dem Ausland“ von BBZ/KommMit Berlin