VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 12.01.2017 - A 6 K 2344/15 - asyl.net: M25006
https://www.asyl.net/rsdb/M25006
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen transsexuellen Mann aus dem Kosovo.

1. Homosexuelle und transsexuelle Menschen gehören im Kosovo zu einer sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Sie sind im Kosovo Stigmatisierung, Diskriminierung und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt.

2. Soweit diese Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren droht, ist der kosovarische Staat nicht in der Lage, ausreichenden Schutz zu bieten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kosovo, Transsexuelle, homosexuell, HIV/AIDS, LGBTI, Verfolgungsgrund, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, sexuelle Identität, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatlicher Akteur, interner Schutz, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Homosexuelle - wie auch transsexuelle - Menschen gehören im Kosovo zu einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Von einem Asylbewerber kann - abgesehen von (hier nicht im Raum stehenden) Handlungen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten - nicht erwartet werden, dass er seine Sexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Daher muss dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, wenn nachgewiesen ist dass nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland seine Homosexualität Ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzt. Dass er die Gefahr dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person, ist insoweit unbeachtlich (vgl. zu Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG <Qualifikationsrichtlinie>, der durch § 3b AsylG in nationales Recht umgesetzt wurde: EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-199/12 u.a. -, Rn. 46 und 67 ff., juris).

Diese Personengruppe besitzt im Kosovo ferner eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG). Homosexualität wie auch sonst die Zugehörigkeit zur sexuellen Minderheit der LGBTI-Personen ist in der kosovarischen Gesellschaft vor allem außerhalb der Hauptstadt ein Tabuthema. Personen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, müssen damit rechnen, sozial ausgegrenzt zu werden. Betroffene berichten, unter permanentem psychischem Druck zu stehen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 07.12.2016, Seite 14). Einer liberalen Gesetzgebung zu Gunsten sexueller Minderheiten stehen in der Gesellschaft und in der eigenen Familie immer noch Stigmatisierung, Diskriminierung und gewalttätigen Übergriffen gegenüber (vgl. für den Zeitraum seit 2008: UNHCR-Richtlinien vom 09.11.2009 zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus dem Kosovo, Seite 19/20; Schweizerische Flüchtlingshilfe, 21.12.2011, Kosovo: Homosexualität; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 17.06.2012 [Seite 19/20], vom 12.06.2013 [Seite 19], vom 25.11.2014 [Seite 15/16) und vom 09.12.2015 [Seite 16]; EASO, Kosovo Report November 2016, Seite 36; EU-Kosovo-Report 2016 vom 09.11.2016, Seite 27/28; Schwedische Einwanderungsbehörde vom 29.09.2016, Seite 4/5 (English Summary); Bundesasylamt Österreich, Länderinformationsblatt Kosovo, 12.07.2016, Seite 29; US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2015 vom 13.04.2016 (unter: Acts of Violence, Discrimination, and Other Abuses Based on Sexual Orientation and Gender Identity]; das Merkmal der sozialen Gruppe ebenfalls - für homosexuelle Frauen - bejahend: OVG Lüneburg, Beschl. v. 18.10.2013 - 8 LA 221/12 -, Rn. 20, juris). Der Vortrag des Klägers über Beschimpfungen im Alltag sowie heftige Ablehnung innerhalb der eigenen Familie reiht sich ohne weiteres in die in den genannten Erkenntnisquellen geschilderte Situation ein. Die LGBTI-Organisation ..., für die der Kläger gearbeitet hat, bestätigt in ihrem Schreiben vom ... (BAMF ...) nicht nur die Mitgliedschaft bzw. die Aktivitäten des Klägers für diese Organisation, sondern führt ferner aus, dass sexuelle Minderheiten im Kosovo erheblich stigmatisiert sind und deshalb ihre Orientierung verbergen müssen. Da es keinen staatlichen Schutz gebe, könne auch die Organisation nicht für die Sicherheit dieser Menschen garantieren (zu den Aktivitäten … vgl. ILGA-Europe, Jahresbericht 2015 über die Menschenrechtssituation der LGBTI-Menschen, Mai 2015, <Kosovo> Seite , und ferner Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., Seiten 5 und 8).

b.) Der Kläger hat wegen seiner Homosexualität bei Rückkehr in den Kosovo Verfolgung in Gestalt physischer und psychischer Gewalt begründet zu befürchten (§ 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 AsylG). Diese Verfolgung droht ihm durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der kosovarische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet (§§ 3c, 3d AsylG), und ohne dass ihm interner Schutz zur Verfügung steht (§ 3e AsylG). [...]

Dass der Kläger möglicherweise vor seinem Bruder sicher sein könnte, indem er nicht mehr nach ... zurückkehrte, sondern in eine größere und anonymere Stadt, etwa die Hauptstadt Pristina, ginge (in diesem Sinne für internen Schutz bei Verfolgung durch Familienangehörige: OVG NRW, Beschl. v. 25.05.2016 - 13 A 871/16.A -, Rn. 10 und 13, juris; VG Manchen, Beschl. v. 21.03.2016 - M 16 S 16.30448 -, Rn. 15, juris), ist unerheblich. Denn die gemäß § 3e Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten und persönlichen Umstände des Klägers ergeben, dass vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er sich woanders im Kosovo niederlässt. Das folgt nicht nur aus der Homosexualität des Klägers, die nach dem oben ausführlich Dargelegten bereits in der Vergangenheit auch Übergriffe Dritter, nicht zur Familie gehörender Personen, ausgelöst hat. Vor allem aber ergibt es sich daraus, dass der Kläger mittlerweile erheblich erkrankt ist. Bereits die HIV-Infektion steht einer Rückkehr in den Kosovo bzw. einer Niederlassung dort, egal in welchem Landesteil, entgegen. Denn die wegen des erreichten Krankheitsstadiums (CDC C2) begonnene und lebenslang erforderliche antiretrovirale Therapie (ART) ist in der erforderlichen Lückenlosigkeit - eine einmal begonnene ART sollte nicht mehr abgesetzt werden, um Resistenzbildung zu verhindern; aus demselben Grund ist eine regelmäßige Tabletteneinnahme unumgänglich - im Kosovo nicht gewährleistet (vgl. WHO, Review of the HIV programme in Kosovo. 2015, Seite 1 [Executive Summary, am Ende], vgl. dazu, dass Medikamente oft nicht vorrätig und in öffentlichen Kliniken nicht verfügbar sind, auch: IOM, Country Fact Sheet Kosovo, Mai 2016, Seite 3; ZIRF-Counselling-Anfragebeantwortung vom 19.09.2016, Az. ZC218).

Angesichts des bereits aufgrund der HIV-Infektion geschwächten physischen und psychischen Zustandes des Klägers sowie aufgrund der bei ihm diagnostizierten PTBS und Depression sowie Angstneurose (vgl. fachärztliches Attest vom …; ferner die Ausführungen der Gutachterin Frau Dr. …) bestehen schließlich auch keine stichhaltigen Gründe dafür, dass an irgendeinem Ort im Kosovo die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu seinen Gunsten dergestalt wären, dass sein Existenzminimum gewährleistet wäre (zu diesem Erfordernis im Rahmen des internen Schutzes vgl. BVerwG, Beschl. v.14.11.2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, juris). [...]