VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2024 - 12 S 77/24 - asyl.net: M32349
https://www.asyl.net/rsdb/m32349
Leitsatz:

Regelung zur Notvertretung durch das Jugendamt bei vorläufiger Inobhutnahme ist unionsrechtswidrig:

1. Art. 24 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie [RL 2013/33/EU] sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden so bald wie möglich nach ihrem Schutzgesuch eine*n Vertreter*in bestellen, welche*r sie vertritt und unterstützt. Schutzsuchende sollen dadurch in die Lage versetzt werden, ihre Rechte aus der Aufnahmerichtlinie in Anspruch zu nehmen und den sich hieraus ergebenden Pflichten nachzukommen.

2. Gemäß Art. 24 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie ist deshalb einer drittstaatsangehörigen Person, die um internationalen Schutz nachsucht, ein*e Vertreter*in zu bestellen, wenn sie behauptet, minderjährig zu sein. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die schutzsuchende Person offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel nicht minderjährig ist und die zuständige Behörde dies ohne Durchführung eines Altersfeststellungsverfahrens bestimmen kann.

3. Die Pflicht der Mitgliedstaaten, eine*n Vertreter*in zu bestellen, gilt insbesondere schon für ein Verfahren zur Altersfeststellung. Denn die Altersfeststellung ist das Tor zum Zugang zu den besonderen Schutzgarantien der Aufnahmerichtlinie für minderjährige, unbegleitete Schutzsuchende. Gerade während der Altersfeststellung muss deshalb durch Bestellung einer Vertretung eine dem Kindeswohl angemessene Gewährung rechtlichen Gehörs gesichert sein. Rechtsschutz gegen die Altersfeststellung oder eine auf dieser Grundlage ergehende Entscheidung über die (vorläufige) Unterbringung ist elementarer Bestandteil der Gewährleistung des Kindeswohls.

4. Diesen Vorgaben entspricht die nationale Regelung des § 42a SGB VIII nicht. Die sog. Notvertretung durch das Jugendamt während einer vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 3 SGB VIII ist auf notwendige Rechtshandlungen beschränkt und sieht nicht die umfassende Vertretung und Unterstützung gemäß Art. 24 Aufnahmerichtlinie vor. Im Übrigen kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der Altersfeststellung zu einer Interessenkollision kommt, wenn ein*e Vertreter*in der schutzsuchenden Person gleichzeitig Vertreter*in desjenigen Rechtsträgers ist, der für die Altersfeststellung zuständig ist. Vertreter*innen müssen in der Lage sein, die Interessen der potenziell minderjährigen Person auch gegen das Jugendamt durchzusetzen, was bei der derzeitigen Rechtslage nicht sichergestellt ist.

5. Weil das nationale Recht den Anforderungen der Aufnahmerichtlinie nicht entspricht, die Richtlinie also nicht unionsrechtskonform umgesetzt wurde, findet Art. 24 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie unmittelbar Anwendung, sodass ein Anspruch auf Bestellung einer Vertretung, wie in Art. 24 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie vorgesehen, besteht. Vertreter*in gemäß Art 24 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie ist eine Person, die Grundkenntnisse in Bezug auf die Aufnahmerichtlinie und das dazugehörige Verfahrensrecht hat, über die Möglichkeit der Familienzusammenführung informiert ist und Kenntnisse in Bezug auf (Schutz)Bedürfnisse und Entwicklungspsychologie eines unbegleiteten Minderjährigen hat und zu einer gegebenenfalls kindgerechten Kommunikation in der Lage ist. In Betracht kämen hierfür hinreichend qualifizierte (sozial-)pädagogische Mitarbeiter*innen der Einrichtungsträger, die Plätze für unbegleitete Minderjährige anbieten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Vormundschaft, Aufnahmerichtlinie, Vertreter, Kindeswohl, Altersfeststellung, Inobhutnahme, vorläufige Inobhutnahme, effektiver Rechtsschutz, rechtliches Gehör,
Normen: RL 2013/33/EU Art. 24 Abs. 1, SGB VIII § 42a Abs. 1, SGB VIII § 42a Abs. 3 S. 1, RL 2013/33/EU Art. 22 Abs. 1, UN-KRK Art. 3 Abs. 1, UN-KRK Art. 12, GR-Charta Art. 24
Auszüge:

[...]

11 1. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, verlangt Art. 24 Abs. 1 UAbs 1 Satz 1 RL 2013/33/EU, dass die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dem unbegleiteten Minderjährigen so bald wie möglich einen Vertreter zu bestellen, der ihn vertritt und unterstützt, damit jener die Rechte aus der Aufnahmerichtlinie in Anspruch nehmen kann und den sich hieraus ergebenden Pflichten nachkommen kann. Diese Pflicht zur Bestellung eines Vertreters besteht immer schon dann, wenn eine Person in vertretbarer Weise behauptet, minderjährig zu sein. [...]

13 b) Nach seinem Wortlaut setzt Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU voraus, dass es sich bei dem Ausländer um einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne des Art. 2 Buchst. d und e RL 2013/33/EU handelt, mithin einen Drittstaatsangehörigen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und sich tatsächlich nicht in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet. Nach Art. 22 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/33/EU beurteilen die Mitgliedsstaaten, ob der Antragsteller eine im Sinne des Art. 21 schutzbedürftige Person - hier also ein unbegleiteter Minderjähriger - ist. Diese Beurteilung wird nach § 22 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 RL 2013/33/EU innerhalb einer angemessenen Frist nach Eingang eines Antrags auf internationalen Schutz in die Wege geleitet und kann in die bestehenden einzelstaatlichen Verfahren einbezogen werden. Nach Art. 22 Abs. 2 RL 2013/33/EU muss die Beurteilung nach Abs. 1 nicht in Form eines Verwaltungsverfahrens erfolgen.

14 c) Nach Art. 23 Abs. 1 RL 2013/33/EU berücksichtigen die Mitgliedsstaaten bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie vorrangig das Wohl des Kindes.

15 aa) Was dem Wohl des Kindes im Hinblick auf die Altersfeststellung und damit bei der Beurteilung der besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen entspricht, ist nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Aufnahmerichtlinie, sondern durch eine an der Charta der Grundrechte der Europäischen Union orientierten und im Sinne des Art. 78 Abs. 1 AEUV konventionskonformen Auslegung zu ermitteln. Nach Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV muss die gemeinsame Politik der Union im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz im Einklang mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen. Unter diese anderen einschlägigen Verträge fallen die von allen Mitgliedsstaaten ratifizierten Verträge [...]. Dazu zählen insbesondere die Übereinkommen zum internationalen Schutz der Menschenrechte und hier insbesondere, wie sich unter anderem aus dem 9. Erwägungsgrund der Aufnahmerichtlinie ergibt, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 [...]. Das so einbezogene Völkerrecht wird damit Teil des Unionsrechts und über den im nationalen Rechtsgefüge eingenommenen Rang eines einfachen Gesetzes herausgehoben [...].

16 bb) Nach Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention ist - weitgehend gleichlautend wie Art. 24 Abs. 2 GRCh - bei allen Maßnahmen, die Kinder (im Sinne des Art. 1 UN-Kinderrechtskonvention) betreffen, "gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." [...] Ausfluss des Kindeswohlprinzips ist das in Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention vorgesehene Recht des Kindes auf rechtliches Gehör und Mitspracherecht. Danach sichern die Vertragsstaaten dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife (Art. 12 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention). Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden (Art. 12 Abs. 2 UN-Kinderrechtskonvention). [...]

18 cc) Ausgehend hiervon ist Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU im Licht der Art. 3 und 12 UN-Kinderrechtskonvention zur Sicherstellung der nach Art. 78 Abs. 1 AEUV gebotenen Beachtung dieser Konvention wie folgt auszulegen: Die Mitgliedsstaaten sorgen bereits dann dafür, dass einer drittstaatsangehörigen Person, die um internationalen Schutz nachsucht, ein Vertreter im Sinne des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU bestellt wird, wenn diese vertretbar behauptet, minderjährig zu sein. Nicht vertretbar behauptet ist die Minderjährigkeit dann, wenn der Ausländer offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel nicht minderjährig ist und die zuständige Behörde dies ohne Durchführung eines Altersfeststellungsverfahrens bestimmen kann.

19 (1) Diese über den Wortlaut hinausgehende Auslegung folgt unter Beachtung von Art. 24 GRCh und Art. 3 und 12 UN-Kinderrechtskonvention aus dem systematischen Zusammenhang zwischen den Art. 22, 23 und 24 RL 2013/33/EU. Wenngleich Art. 22 Abs. 1 RL 2013/33/EU für die Beurteilung, ob ein Antragsteller besonders schutzbedürftig ist, keine Vorgaben im Hinblick auf die Vertretung der betroffenen Person bei der Beurteilung enthält, handelt es sich bei Art. 22 RL 2013/33/EU um eine Vorschrift, die Minderjährige im Sinne des Art. 23 Abs. 1 RL 2013/33/EU berührt und bei deren Anwendung vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen ist. Ausgehend von dem oben dargelegten grund- und konventionsrechtlich begründeten Kindeswohl, kommt dem rechtlichen Gehör des Kindes entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Kindeswohls zu. Mit dem UN-Kinderrechtsausschuss erkennt der Senat in der Altersfeststellung den Ausgangspunkt und das Tor zum Zugang zu den besonderen Schutzgarantien, die für Minderjährige in Art. 23 f. RL 2013/33/EU aufgeführt sind. Aus dieser Schlüsselfunktion der Altersfeststellung folgt, dass gerade während dieser Beurteilung eine dem Kindeswohl angemessene Gewährung rechtlichen Gehörs gesichert sein muss. Nach Art. 12 Abs. 2 UN-Kinderrechtskonvention kann das Kind entweder unmittelbar, durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle gehört werden. Eine nähere Ausgestaltung enthält Art. 12  UN-Kinderrechtskonvention nicht, sondern überlässt  diese den Mitgliedsstaaten. Die Gewährung unmittelbaren rechtlichen Gehörs schließt indes nicht die Notwendigkeit eines Vertreters aus. Vielmehr ist gerade in diesen Fällen, in denen es - wie etwa bei einer qualifizierten Inaugenscheinnahme im Rahmen der Altersfeststellung - auf die Äußerungen des Kindes ankommt, eine Begleitung durch einen kundigen Vertreter von besonderer Bedeutung. [...]

20 Diese Pflicht der Mitgliedsstaaten, für die Bestellung eines Vertreters nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU zu sorgen, besteht im Hinblick auf die dargelegte Bedeutung der Altersfeststellung für die Gewährung der besonderen Schutzgarantien bereits dann, wenn die vertretbare Behauptung des Ausländers, minderjährig zu sein, im Wege eines Altersfeststellungsverfahrens überprüft wird. Die Tatbestandsvoraussetzung der Minderjährigkeit in Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU ist insoweit konventionskonform zu reduzieren. Die Bestellung eines Vertreters ist jedoch dann nicht erforderlich, wenn ohne jeden vernünftigen Zweifel offensichtlich ist, dass der Ausländer entgegen seinen Angaben nicht minderjährig ist. In diesem Fall kommt es nicht auf seine qualifizierten Angaben im Rahmen eines Altersfeststellungsverfahrens an, bei denen er zur Ermittlung und Sicherung des Kindeswohls auf einen Vertreter seiner Interessen angewiesen ist. Entscheidend sind insoweit vielmehr im Wege einer Sichtprüfung allein sein äußeres Erscheinungsbild sowie etwa vorhandene Urkunden oder andere Dokumente. Dabei geht es um Fälle, in denen das Sich-Berufen der betroffenen Person auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss [...].

21 Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist dabei nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme. Eine vorläufige Inobhutnahme ist deshalb bereits dann möglich und geboten, wenn das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festzustellen ist (Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.04.2017 - 12 BV 17.185 -, juris Rn. 31). Das Instrument der vorläufigen Inobhutnahme ist daher für die Zwecke der Altersbestimmung nicht nur für eindeutig Minderjährige, sondern darüber hinaus auch für solche Personen eröffnet, bei denen die Minderjährigkeit nicht ohne Weiteres feststeht, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann (BVerwG, Urteil vom 26.04.2018 - 5 C 11.17 -, juris Rn. 29). Allein die Frage, ob bereits aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes oder unmittelbar vorgelegter Urkunden oder anderer Dokumente eine Minderjährigkeit offensichtlich auszuschließen ist, ist bei der Prüfung, ob eine vorläufige Inobhutnahme - auch mit dem Ziel einer folgenden Altersfeststellung - verfügt wird, zu beantworten.

22 (2) Für dieses Auslegungsergebnis spricht auch der systematische Zusammenhang zwischen der Durchführung der Prüfung der besonderen Schutzbedürftigkeit nach Art. 22 Abs. 1 und 2 RL 2013/33/EU und dem nach Art. 26 Abs. 1 RL 2013/33/EU zu gewährleistenden Rechtsschutz. Danach stellen die Mitgliedsstaaten sicher, dass gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Gewährung, dem Entzug oder der Einschränkung von Vorteilen gemäß dieser Richtlinie oder gegen Entscheidungen gemäß Art. 7 RL 2013/33/EU, die Antragsteller individuell betreffen, ein Rechtsbehelf nach den im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren eingelegt werden kann (Abs. 1 Satz 1). Darüber hinaus stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass im Falle eines Rechtsbehelfs oder einer gerichtlichen Überprüfung nach Absatz 1 unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung in Anspruch genommen werden kann, soweit dies zur Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes erforderlich ist (Abs. 2 Satz 1). Dies umfasst zumindest die Vorbereitung der erforderlichen Verfahrensdokumente und die Vertretung vor den Justizbehörden im Namen des Antragstellers (Abs. 2 Satz 2).

23 Auch diese Regelungen sind Bestimmungen, die im Sinne des Art. 23 Abs. 1 RL 2013/33/EU Minderjährige berühren und bei deren Anwendung die Mitgliedsstaaten vorrangig das Wohl des Kindes zu berücksichtigen haben. Unter Berücksichtigung der grund- und konventionsrechtlichen Bezüge des Kindeswohls ist der Rechtsschutz gegen die Altersfeststellung oder gegen die auf dieser Grundlage ergehende Entscheidung über die (vorläufige) Unterbringung des Kindes ein elementarer Bestandteil der Gewährleistung des Kindeswohls. Dieser Rechtsschutz ist nur dann in effektiver Weise gewährleistet (Art. 47 GRCh), wenn das Kind in der Lage ist, den eröffneten Rechtsweg zu beschreiten (vgl. Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2017, Art. 12 Rn. 18). Im Falle eines nicht erkannten Minderjährigen dürfte dies regelmäßig nicht gegeben sein. Aufgrund seines nicht korrekt erkannten Alters und fehlender sachkundiger Unterstützung eines Erwachsenen dürfte es ihm nicht zumutbar sein, eigenständig ein verwaltungsbehördliches Rechtsbehelfs- sowie verwaltungsgerichtliches Verfahren einzuleiten. Ein Vertreter im Sinne von Art.

24 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU kann bei der Erfassung des Bescheids sowie bei der Organisation einer rechtsanwaltlichen Vertretung behilflich sein. Dies ist zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs des Kindes im Sinne von Art. 12 Abs. 2 UN-Kinderrechtskonvention, wie oben dargelegt, zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich. [...]

25 (3) Entgegen der Beschwerde lässt Art. 25 Abs. 2 RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) die Bestellung eines Vertreters nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU nicht entfallen, wenn der unbegleitete Minderjährige aller Wahrscheinlichkeit nach vor der erstinstanzlichen Entscheidung das 18. Lebensjahr vollenden wird. Denn der Unionsgesetzgeber hat im Einklang mit Sinn und Zweck der Aufnahmerichtlinie dort keine vergleichbare Regelung getroffen. Eine Regelungslücke ist insoweit nicht ersichtlich.

26 2. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/33/EU sieht im Verhältnis zu Art. 2 Buchst. j RL 2013/33/EU qualifizierte Voraussetzungen für die Befähigung des Vertreters vor. Er muss nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 3 RL 2013/33/EU der Vorschrift seine Aufgabe im Einklang mit dem Grundsatz des Kindeswohls nach Art. 23 RL 2013/33/EU wahrnehmen und entsprechend versiert sein. Um das Wohlergehen und die soziale Entwicklung des Minderjährigen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. b zu gewährleisten, wechselt die als Vertreter handelnde Person nur im Notfall (UAbs. 1 Abs. 1 Satz 4). Organisationen oder Einzelpersonen, deren Interessen denen des unbegleiteten Minderjährigen zuwiderlaufen oder zuwiderlaufen könnten, kommen als Vertreter nicht in Betracht (UAbs. 1 Abs. 1 Satz 5). Nach allgemeiner Definition in Art. 2 Buchst. j RL 2013/33/EU ist ein Vertreter eine Person oder Organisation, die von den zuständigen Behörden zur Unterstützung und Vertretung eines unbegleiteten Minderjährigen in Verfahren nach Maßgabe dieser Richtlinie bestellt wurde, um das Kindeswohl zu wahren und für den Minderjährigen, soweit erforderlich, Rechtshandlungen vorzunehmen (Satz 1). Wird eine Organisation zum Vertreter bestellt, so bezeichnet diese eine Person, die gegenüber dem unbegleiteten Minderjährigen die Pflichten der Vertretung im Einklang mit dieser Richtlinie wahrnimmt (Satz 2).

27 Hiervon ausgehend handelt es sich bei dem Vertreter im Sinne von Art 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU um einen Verfahrensbeistand für die Durchführung der Verwaltungsverfahren und Maßnahmen nach der Aufnahmerichtlinie. Die Vertretung hat somit nicht das Ziel, die Rechte im Asylverfahren zu wahren, sondern speziell die Leistungen gemäß der Aufnahmerichtlinie zu sichern [...]. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 und 3 RL 2013/33/EU fordert die Bestellung eines Vertreters, der seine Aufgaben im Einklang mit dem Grundsatz des Kindeswohls gemäß Art. 23 Abs. 2 RL 2013/33/EU wahrnimmt und entsprechend versiert ist. Darunter ist eine Person zu verstehen, die Grundkenntnisse in Bezug auf die Aufnahmerichtlinie und des dazugehörigen Verfahrensrechts hat (Aufgaben nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU), über die Möglichkeit der Familienzusammenführung informiert ist (Art. 23 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/33/EU) und Kenntnisse in Bezug auf (Schutz)Bedürfnisse und Entwicklungspsychologie eines unbegleiteten Minderjährigen hat und zu einer gegebenenfalls kindgerechten Kommunikation in der Lage ist (Art. 23 Abs. 2 Buchst. b, c und d RL 2013/33/EU). Der Vertreter ist das Bindeglied zwischen dem betroffenen Minderjährigen und den Behörden und Einrichtungen, die für die Maßnahmen und Verfahren nach der Aufnahmerichtlinie zuständig sind [...].

28 Durch einen in dieser Weise qualifizierten Verfahrensbeistand wird das rechtliche Gehör zur Sicherung des Kindeswohls gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU, Art. 24 GRCh sowie Art. 3 und 12 UN-Kinderrechtskonvention hinreichend gewährleistet. [...]

30 Nach Auffassung des Senats können insbesondere nach obigen Vorgaben hinreichend qualifizierte (sozial-)pädagogische Mitarbeiter der Einrichtungsträger, die Plätze zur Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger anbieten, geeignete Vertreter im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU sein. Nach dem Vortrag der Beschwerde werden die bei der Antragsgegnerin ankommenden Ausländer, die angeben, minderjährig zu sein, einem Einrichtungsträger mit Plätzen zur Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger zugeführt. Dort werden sie von den Sozialarbeitern des Einrichtungsträgers versorgt, die sodann dafür sorgen würden, dass der betroffene Ausländer an dem Termin zur Altersfeststellung erscheint. Es liegt nahe, dass diese Bediensteten des Einrichtungsträgers auch die Aufgaben eines Vertreters im Sinne des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU wahrnehmen können.

31 3. Die gefundene Auslegung der Aufnahmerichtlinie steht im Widerspruch zu nationalem Recht (a)). Sie zieht ihre unmittelbare Anwendung zugunsten des Antragstellers nach sich (b)).

32 a) Entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben verpflichtet das nationale Recht die zuständigen Behörden nicht, einem nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommenem ausländischen Kind oder einem ausländischen Jugendlichen während der behördlichen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen Vertreter im oben dargelegten Sinn zu bestellen. Soweit das Jugendamt nach § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet ist, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohle des Kindes oder des Jugendlichen notwendig sind (sogenannte Notvertretung), genügt dies den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 RL 2013/33/EU nicht. Dies gilt schon deshalb, weil die Beschränkung auf die notwendigen Rechtshandlungen im Sinne des § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hinter der Aufgabe eines Vertreters nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU, der den unbegleiteten Minderjährigen umfassend vertritt und unterstützt, zurückbleibt. Das Jugendamt ist aber zugleich für die Altersfeststellung zuständig und wäre damit Vertreter des unbegleiteten Minderjährigen und Vertreter des über die vorläufige Inobhutnahme entscheidenden Rechtsträgers. Wenngleich dies nicht zwingend eine Interessenkollision zur Folge haben muss, kann indes nicht ausgeschlossen werden, dass die Interessen des Jugendamtes insbesondere im Falle der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme den Interessen des unbegleiteten Minderjährigen entgegenlaufen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie von der Antragsgegnerin vorgetragen - für die Vertretung des potenziell unbegleiteten Minderjährigen ein an der Altersfeststellung mitwirkender Bediensteter zuständig sein soll. Hiervon ausgehend kommt das Jugendamt nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 5 RL 2013/33/EU als Vertreter im Sinne des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU jedenfalls in der bislang normierten Ausgestaltung der sogenannten Notvertretung nach § 42a Abs. 3 SGB VIII nicht in Betracht.

33 Der Senat schließt nicht grundsätzlich aus, dass bei entsprechender Ausgestaltung im Sinne einer organisatorischen und personellen Trennung die Vertretung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU auch von Bediensteten der Antragsgegnerin zulässigerweise wahrgenommen werden kann (vgl. etwa § 55 Abs. 5 SGB VIII; dazu BT-Drs. 19/24445, 403). Dies gilt jedoch auch dann nicht, wenn der zur Vertretung bestimmte Bedienstete der Organisationseinheit zugeordnet ist, die für die Altersfeststellung zuständig ist. Vielmehr muss der Bedienstete in der Lage sein, die Interessen des potenziell unbegleiteten Minderjährigen gegen das Jugendamt durchzusetzen. Die derzeitige Fassung des § 42a Abs. 3 SGB VIII entspricht diesen Anforderungen nicht. Denn - anders als das Verwaltungsgericht meint - sind dem nationalen Recht keine Anforderungen in organisatorischer und personeller Hinsicht an die Ausgestaltung der Vertretung nach § 42a Abs. 3 SGB VIII zu entnehmen. [...]

35 b) Um den betroffenen unbegleiteten Minderjährigen das unionsrechtlich vorgesehene Recht auf die Bestellung eines Vertreters während des Altersfeststellungsverfahrens nicht vorzuenthalten, ist eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie geboten.

36 Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich; sie überlässt den nationalen Gesetzgebern jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Richtlinien sind daher grundsätzlich nicht auf unmittelbare Anwendbarkeit angelegt und bedürfen der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann eine Richtlinie jedoch unmittelbare Wirkungen entfalten, wenn die Frist für die Umsetzung abgelaufen ist, ohne dass der Mitgliedstaat diese vollständig und korrekt implementiert hat [...] und sie keine Belastungen Dritter enthält.

37 Diese Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des Art. 24 Abs. 1 RL 2013/33/EU liegen vor: Es handelt sich um eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung, die ein Recht des Einzelnen begründet und die der deutsche Gesetzgeber hier nicht innerhalb der am 20.07.2015 (Art. 31 Abs. 1 RL 2013/33/EU) abgelaufenen Umsetzungsfrist in das nationale Recht umgesetzt hat. Art. 24 Abs. 1 RL 2013/33/EU gibt den Mitgliedsstaaten eine hinreichend präzise positive Verpflichtung auf, der ein hinreichend klar definiertes Recht des betroffenen Einzelnen gegenübersteht. [...]

38 4. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die fehlende Bestellung eines Vertreters nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU einen beachtlichen Verfahrensfehler zur Folge hat, der weder nach § 41 SGB X geheilt worden noch nach § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X unbeachtlich ist. Die Beschwerde wird insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen (§ 130b Satz 2 VwGO). [...]